Polen in Berlin: Mäntel, Wurst und Vorurteile

Schon vor dem Mauerfall traf Westberlin 1989 auf den Osten - beim legendären Polenmarkt. Seither formen die östlichen Nachbarn die Wirtschaft der Stadt mit. Ihr Potenzial aber wird nicht ausgeschöpft.

Das Potential der Nachbarn aus dem Osten wird nicht abgeschöpft. Bild: AP

Geblümte Kaffeetassen stehen noch auf dem Tisch, eine gelbe Thermoskanne, Kekse. Es scheint nett zugegangen zu sein an diesem Vormittag im Polnischen Sozialrat. Die Mitarbeiter trafen sich mit deutschen Polizisten zum Seminar. Thema: Wie kann die Polizei besser mit polnischen Migranten umgehen. Witold Kaminski winkt fröhlich ab. Es war eher ein Plaudern. Die Polizisten kommen gern hierher. Problemchen, die heute noch auftreten, sind eigentlich nicht der Rede wert. Eigentlich.

Nach der Wende kamen geschätzte 100.000 Polen nach Berlin. Sie trafen auf 30.000 Landsleute, die in den 80er-Jahren als Emigranten gekommen waren.

Heute sind rund 44.000 polnische Staatsbürger mit Hauptwohnsitz Berlin gemeldet. Damit sind die Polen die zweitgrößte Ausländergruppe in der Stadt nach den Türken, von denen 111.000 registriert sind.

Nach Angaben der Industrie- und Handelskammer Berlin leben und arbeiten heute mehr als 130.000 Menschen mit polnischer Muttersprache in Berlin. Bis Ende 2008 hat die IHK 5.209 Unternehmen mit polnischen Geschäftsführern geschätzt. Damit hat sich ihre Zahl in den vergangenen fünf Jahren versechsfacht.

Seit 20 Jahren veranstaltet der drahtige kleine Mann mit dem schulterlangen weißen Haar die Polizeiseminare. 1982 gründete er den Sozialrat als Interessenvertretung der polnischen Migranten. Heute ist er eine der größten Selbsthilfeorganisationen der Community in Deutschland. Damals, 1989, erzählt Kaminski, habe es einen sehr handfesten Grund für die Arbeit mit der Polizei gegeben: Beschlagnahmungen von Hab und Gut, Misshandlungen und vor allem jede Menge Vorurteile seitens der Behörden. Es war die Zeit des Polenmarkts. Wenn der 62-Jährige sich erinnern soll, dann bekommt seine Stimme einen wehmütigen Klang. "Es ist damals viel Porzellan zerschlagen worden, auf der menschlichen Ebene", sagt der Mann. Und auf der wirtschaftlichen Ebene sei - damals bis heute - viel Potenzial nicht genutzt worden.

1988 erlaubte Warschau seinen Bürgern Reisefreiheit. Und die nutzten diese Möglichkeit zu Hunderten, zu Tausenden, um in die visumfreie Stadt Berlin zu fahren. Im Juni 1989 waren es 40.000, die kamen - jeden Tag. Sie reisten mit der Eisenbahn an - 1,80 Mark kostete das Ticket für Berlin-Stettin und zurück -, mit Autos und in Bussen, die an der Straße des 17. Juni parkten, einer hinter dem anderen wie heute die Touristenautos.

Die Polen aber wollten sich nicht die Stadt anschauen. Sie wollten Waren verkaufen. Zum Beispiel T-Shirts, die in Polen umgerechnet 5 Pfennig kosteten. Die Rechnung war einfach: Wenn man in Berlin 20 Shirts für 2 Mark das Stück verkaufte, dann hatte man einen Monatsverdienst in Polen zusammen.

Für ausländische Korrespondenten war der Polenmarkt das große Medienereignis im Frühsommer des Jahres 1989. Bilder, die kurz darauf nur vom Fall der Mauer übertrumpft wurden. Egal ob junge Männer, ältere Frauen, ob Lehrer oder Ärzte - sie alle breiteten am Reichpietschufer und später am Potsdamer Platz unweit der Philharmonie ihre Decken aus und boten darauf polnische Würste an, eingelegte Pilze, Kristall, Zigaretten, Schnaps. Es waren Bilder vom Handel in seiner Urform.

Für Westberlin aber war es eine Zumutung. Die Zeitungen und die Parteien sprachen von unhaltbaren Zuständen, von Schmutz, Kriminalität, Prostitution. Das Phänomen Polenmarkt sahen die Wenigsten der ökonomischen Situation geschuldet, schnell wurde der Handel der Mentalität eines Volkes zugeschrieben.

"Die Öffnung zu Polen hat vieles durcheinandergewirbelt", resümiert der Ökonom Dietrich Henckel. Er selbst erlebte den Polenmarkt, wie er sagt, als "Voyeur". Später beschäftigte er sich als Wissenschaftler für regionale Ökonomie mit der informellen Wirtschaft in Berlin. Wo vorher meist nur Türken handelten, kamen nun die Polen, später auch die Russen und die Vietnamesen hinzu. "Die Maueröffnung hat die Struktur der informellen Ökonomie deutlich verändert", sagt Henckel.

Interessanter aber noch findet der Raumökonom, dass sich durch den Handel der Polen auch die formelle Ökonomie veränderte. In der Kantstraße siedelten sich Elektronikläden an, einer neben dem anderen. Meist betrieben Polen, die schon länger in der Stadt lebten, die Geschäfte. Hier kauften sich die reisenden Händler für ihr auf dem Polenmarkt verdientes Geld ihre ersten Computer.

"Handel ist nie eine Einbahnstraße", sagt Witold Kaminski. "Auch die Westberliner Wirtschaft profitierte. Doch das wollte damals niemand wahrhaben." Dabei war der Polenmarkt, so Kaminski, "eine Chance, sich mit dem deutsch-polnischen Verhältnis auseinanderzusetzen". Denn bevor sich Ost- und Westdeutsche begegneten, traf die Möchtegern-Metropole Westberlin erst mal auf Polen.

Das verlief in eingefahrenen Bahnen, gekennzeichnet von Stereotypen und Vorurteilen. Von den Schikanen der Behörden seinen Landsleuten gegenüber erfuhr Witold Kaminski täglich. Hilfesuchende riefen ihn an, kamen zu ihm in seine Wohnung, wenn sie Beschimpfungen oder gar Misshandlungen erlitten hatten oder ihre Waren beschlagnahmt wurden. Sie kamen aber auch, um Zigaretten und Alkohol zu verkaufen. Kaminski erfuhr, dass selbst seine Telefonnummer zum Handelsgut wurde.

Schon der CDU/FDP-Senat unter Eberhard Diepgen ließ das Gelände Ende 1988 einzäunen und veranstaltete Großrazzien gegen die Händler. Auch die rot-grüne Nachfolgeregierung unter Walter Momper versuchte im Juni 1989 durch Einzäunen und Verbot, der Situation Herr zu werden. "Es ist vielleicht sehr urdeutsch zu glauben, was man nicht erlaubt, gibt es nicht mehr", sagt Kaminski. Plötzlich gab es hundert Polenmärkte verstreut in der Stadt.

Erst nach der Wiedervereinigung verschwanden die Marktpolen nach und nach aus dem Stadtbild. Westberlin hatte mit der deutschen Einheit seinen Sonderstatus verloren. Plötzlich bestand wie im Rest der Bundesrepublik Visumspflicht für Polen. Als diese später wieder abgeschafft wurde, blieben die Händler trotzdem aus. Die Not, an Geld zu kommen, verschwand mit der Privatisierungswelle auch in Polen. Und wer noch mit Gütern handeln wollte, reiste in die Grenzstädte. Heute sind die Polenmärkte auch dort so gut wie verschwunden.

Statt Waren werden nun höherwertige Dienstleistungen gehandelt - ob informell oder formell -, von Putzfrauen und Pflegekräften bis hin zum Zahnarzttourismus. Eine ganze informelle Infrastruktur für Pendler hat sich entwickelt, betrieben zumeist von Landsleuten mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus. Die Industrie- und Handelskammer verweist stolz auf die offiziellen 5.209 Unternehmen mit polnischen Geschäftsführern in Berlin. Das sind fast so viel wie türkische Firmen: vom Großhändler bis hin zum Busbauer, vom Gastronomiebedarf bis zum Reiseunternehmen. Auch in die andere Richtung, von Berlin nach Polen, so die IHK, "pulsieren die Wirtschaftsadern".

Kaminski zeichnet mit dem Finder eine aufsteigende Linie auf den Tisch. "Von außen betrachtet", sagt er, "ist das eine Erfolgsgeschichte." Aber ihm geht die Entwicklung viel zu langsam. Was früher der Schwarzmarkt war, sei heute die Scheinselbstständigkeit. "Kein Mensch weiß, wie viele polnische Einmannfirmen es in Berlin gibt", sagt Kaminski. "Und niemand denkt daran, diese zu legalisieren." Und dann gebe es noch all das ungenutzte Potenzial, wenn der ausgebildete Arzt als Trockenbauer, die Akademikerin als Putzfrau arbeitet. "Ich habe Angst", sagt er, "dass Erfolgsmeldungen den Blick dafür versperren, was wir als Berliner Gesellschaft, als Berliner Wirtschaft verloren haben."

Zwar sind die Polen seit fünf Jahren in der EU, eine Arbeitserlaubnis haben viele dennoch nicht. Der Polnische Sozialrat veranstaltet Kurse für polnische Gewerbetreibende, die laut Kaminski oft nicht wissen, was Recht und Unrecht im deutschen Gesetz sei. Gelder für die Schulungen gibt es nicht. "Dabei wäre das eine Investition, die sich schnell auszahlen würde." Genauso wütend macht Kaminski, dass die Polen andererseits keine Integrationsmaßnahmen bekämen. Weil sie eben EU-Bürger sind.

Und noch etwas treibt ihn um: Vor zwei Jahren hat er mit einem Kollegen ein Projekt gestartet: Polnische Unternehmer sollen die Brandenburger Stadt Forst vor dem Aussterben retten. Auch andere Dörfer, ganze Regionen könnten von polnischen Zuwanderern profitieren, so die Vision, wenn man nur ihr Potenzial nutze. Dafür müssten jedoch die alten Ängste überwunden werden. "Auf beiden Seiten gibt es Minderwertigkeitskomplexe - weil die Polen so aktiv und weil die Deutschen so organisiert sind." Kaminski und sein Kollege hatten eine Beratungsstelle für polnische Gewerbetreibende aufgebaut, die auf breite Zustimmung stieß. Das Projekt lief Ende vergangenen Jahres aus. Die EU bewilligte keine weiteren Gelder. Die Stadtverwaltung drängte Kaminski zwar, weiter zu helfen - aber für lau will er nicht arbeiten.

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