Leidenschaftlich leidenschaftslos?

Agent-provocateur.ch stört die Ruhe durch überraschende Aktionen in der Öffentlichkeit, mit denen Reizthemen für die Schweizer Befindlichkeit aufgenommen und provokativ kommentiert werden: www.agent-provocateur.ch. (Nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Reizwäschehersteller) Swissminiatur – die Schweiz, noch kleiner, als sie ohnehin schon ist, gibt es in der Via Cantonale, 6815 Melide. www.swissminiatur.ch.

Der Samschtig-Jass, bei dem auch Differenzler gespielt wird, läuft an Samstagen auf SF1. Genauere Programmhinweise siehe www.sf.tv/sf1/samschtigjass/index.php. Auf welchen Strecken das Ruheabteil der SBB mit Disskussions-, Handy- und Musikverbot im Einsatz ist, erfährt man unter www.sbb.ch. Ein Buch von Christian Schwager gibt Einblick in die versteckten Heiligtümer der Schweiz, die getarnten Bunker des Schweizer Militärs. Falsche Chalets, erschienen bei Edition Patrick Frey 2004, 58 CHF/39 Euro.

Das Goldvreneli erhielt seinen Namen durch die Verniedlichung des traditionellen Schweizer Vornamens Verena. Man bezieht es über die Eidgenössische Münzstätte, An- und Verkauf von Münzen: www.swissmint.ch. Schweizer Vitaparcours hat Standorte schweizweit unter www.vitaparcours.ch. Die über fünfhundert gut organisierten Feuerstellen der Schweizer Familie sind im Netz aufgelistet: www.schweizerfamilie.ch/freizeit/feuerstellen.html

GINA BUCHER

Oh nein! Schweizer sind wirklich sehr intensiv. Allerdings diskret und unaufgeregt. Im Kleinen wie im Verborgenen. Deswegen bemerkt man ihre spontan aufglühenden Passionen nicht sofort, leider. Eine Ortsbegehung

VON GINA BUCHER

Freudig, vor Spannung kaum atmend, reißt der Zehnjährige das Päckchen auf. Wenn nicht die neueste Spielkonsole, dann doch mindestens der ersehnte MP3-Player, hofft er. Die Großmutter, kaum weniger aufgeregt, sitzt neben ihm und strahlt. Dann die Überraschung: Im Paket liegt ein Goldvreneli.

Kaum ein Schweizer Kind kennt diese Situation nicht. Zu Geburtstag oder der Konfirmation verschenken die Göttis (Paten) eine der 58,6 Millionen 20-Franken-Münzen, und der Beschenkte weiß nicht so recht, was es damit anfangen soll. Lange waren die Goldvrenelis Inbegriff der eisernen Reserve, heute werden sie von Sammlern heiß begehrt und von Kindern skeptisch entgegengenommen. Ursprünglich als reguläres Zahlungsmittel gedacht, lagerte die Münze nach Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg als Sparbatzen in den Schubladen. Das Goldvreneli offenbart den nationalen Charakter dieses scheinbar so passionslosen Volkes: Des Schweizers heimliche Leidenschaft liegt im Herunterspielen des Großen, er verbirgt sie im Kleinen und Unscheinbaren.

Die Leidenschaften einer Nation zu beschreiben, die mit Passionen nicht gerade brilliert, bringt in Verlegenheit. Zwar bieten die Klischees des Landes einige und durchaus attraktive Hinweise: Da wären die bezaubernden Berge, die delikate Schokolade, die saubere Bahnhofstraße und die Tresore voll Gold. Doch über all das ist nichts Spektakuläres zu berichten.

Es gibt nicht viele Schweizer, so viel ist bekannt (das statistische Amt zählt 7.591.400 Einwohner, wobei lediglich 5.989.500 den roten Pass besitzen), und die paar versprechen nur selten einen glamourösen Auftritt. Wie die Topografie einer Nation, so der Charakter der Einwohner, schockierte mich vor Jahren, natürlich, ein Holländer. Die Schweizer seien zurückhaltend und schüchtern in der Art, verschroben und beschränkt im Denken – wie die Täler eben.

So ist es. Kein Schweizer reißt sich bei öffentlichen Auftritten die Kleider vom Leibe (trotzt der zwölf Grandslam-Siege für Roger Federer), küsst überschwänglich Jurymitglieder (dabei gab es sechs Oscars für Arthur Cohn) oder veröffentlicht skandalöse Enthüllungen über das aufregende Leben mit den Stars (einmal James Bond behielt Ursula Andress für sich).

Das ist ein schweres Los für die Boulevardpresse des Landes, die sich oft genug an Auslandsschweizern (Exbotschafter Thomas Borer mit Gattin Shawn Fielding in Berlin) oder Steuerflüchtigen an Schweizer Seen (Tina Turner am Zürichsee, Michael Schumacher am Genfer See) orientieren muss.

Die Einheimischen aber, scheint’s, können gut mit dem Mangel an Glamour leben. Sie kompensieren das Manko in aller Heimlichkeit, formieren sich schelmisch im Untergrund, um ihren Passionen zu frönen. Denn tatsächlich, sie genießen: heimlich und versteckt, im Kleinen und Privaten.

En miniature (li) – (Im Kleinen)

Offensichtlichstes Indiz für die Leidenschaft im Kleinen ist das Diminutiv, das es schafft, selbst eine Weltreise auf ein harmloses „Reisli“ zu reduzieren. Die jeweilige Sprache in den einzelnen Sprachregionen hält zusammen, ist aber Privileg der Einheimischen. Jener fremde Gast an der Theke, der stolz ein „Bierli“ bestellt, bekommt einen bösen Blick. Der Schweizer Franken schwächelt zwar, die Verniedlichung aber ist dem Goldvreneli vorbehalten.

Dennoch, man kann es nur schwer abstreiten, lieben die Schweizer die große Welt im Kleinen. Handlich und übersichtlich im „Töggelikasten“ (Tischfußball), etwas großzügiger in der Minigolfanlage. Vielleicht weil das bergige Land mit 41.285 Quadratkilometer Fläche nicht hinreichend Platz für große Fußballfelder oder Golfplätze bietet. Obwohl es deren einige gibt, ist „töggelen“ eine Art Volkssport. Das Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich schenkt diesen Monat gar allen Volksschulen einen „Töggelikasten“ – als Erinnerung an die Euro 08.

Regelmäßiges Highlight früherer Generationen war der Ausflug mit der Schulklasse zum Minigolf, kurz vor den Sommerferien. Keine allein schweizerische Leidenschaft, doch immerhin die Erfindung eines Schweizers. Paul Bongni ließ Minigolf als Erster markenrechtlich schützen und die Bahnen offiziell normen, als er in den 1950er-Jahren in der Nähe von Locarno im Tessin die erste Anlage baute.

Im Wald – (Im Verborgenen)

Der Holländer, der behauptete, die Landschaft bestimme die Volksseele, vergaß den Wald. Insgesamt rund 1,2 Millionen Hektaren Wald schmücken die Täler und das Flachland. Genügend Platz für eine weitere Leidenschaft, die tatsächlich von vielen nur heimlich ausgeübt wird: den Vitaparcours. An 504 Standorten, meist im Wald, montierte eine bekannte Schweizer Versicherungsgesellschaft seit 1968 Anleitungen für Leibesübungen und offeriert damit der Bevölkerung den größten Fitnessklub. Wer sich im Wald nicht trimmt, der zieht es vor, zu „bräteln“ (von braten, gemeint ist grillen).

Eine Leidenschaft, in der die Schweizer ihre eigene Variante gefunden haben. Auch wenn die Schweizer Familie, ein Magazin, das in jeder Arztpraxis ausliegt, seit zwanzig Jahren 505 Feuerstellen betreibt. Eine Feuerstelle im Wald zu suchen ist elementarer Bestandteil des sonntäglichen Familienausflugs. Im Unterschied zum Grillieren (nicht grillen!) kann sich hier brüsten, wer ganz ureinwohnerartig mit einem Zündholz und ohne Rauchentwicklung ein Feuer zustande bringt. Grundlage dieser Leidenschaft ist das auf jeden Fall selbst mitgebrachte Grillgut – auch bei Einladungen. Selbst wenn anschließend alle mit derselben Cervelat (Wurst) von der Migros (neben Coop größter Detailhändler) um das Feuer sitzen.

In den Tälern – (Im Privaten)

Was öffentlich nicht gelingt, wird gerne im Privaten versteckt. Nationale Großereignisse wie „Musicstar“ (Adaption von „American Idol“) lassen so manchen Schweizer aus Verlegenheit erröten. Die Show ist bis ins letzte Detail so perfekt geplant, dass weder Nonchalance noch Zufall das Ereignis beglückt. Kaum ein Land frönt einem so durchstrukturiertem Vereinsleben wie die Schweiz. Leidenschaftlich engagieren sich die Schweizer für gemeinsames Kegeln, Musizieren, Kochen oder Gleitschirmfliegen. Etwa 41 Prozent der Schweizer sind aktives Mitglied in einem Verein, stellte vor einigen Jahren der Historiker Hilar Stadler fest.

Kopiert von den südlichen und westlichen Nachbarn ist der Apéro die Rettung so manchen trostlosen Montags. Gerne verabreden sich Jung und Alt zum gemeinsamen Begießen des Feierabends, direkt nach der Arbeit, kurz vor dem Abendessen. Der Apéro kann bereits mittags beginnen (sonntags), findet häufig um 17 Uhr (samstags) oder um 19 Uhr (werktags) statt. 1959 stellte Oscar Kambly die „Goldfischli“ als modernes Apérogebäck auf den Tisch. Die Fischli überlebten die diversen Moden des Apéros, die Oliven und getrockneten Tomaten, und fördern den Durst nach einer Stange (gezapftes Bier), Panaché (Bier mit Citro) oder „gschprützte Wiisse“ (gespritzter Weißwein).

Im Chalet – (Im Inneren)

Das Geheimnis des Fondues ist weniger die perfekte Käsemischung, ob klassisch oder dezent würzig moitié-moitié, als vielmehr die Kombination der Gäste. Im Fondue zu rühren ist soziales Vergnügen, wer ein Brotstück im Käse verliert, wird abwaschen oder einmal nackt ums Chalet rennen müssen. Warum vor einigen Jahren ein Einportionenfondue lanciert wurde, bleibt ein Rätsel. Das spezielle Kartenspiel schaffte es gar in die Prime Time des Schweizer Fernsehens und wird regelmäßig am Samstagabend von Dorfplätzen und Gärten in die heimeligen Stuben übertragen. Nicht nur die Senioren mögen den „Samschtigs-Jass“, auch die Junioren – durchaus auch jene, die Hot Chip hören, American Apparel tragen und kiffen – treffen sich gern zum gemeinsamen Spiel.

Im Ruheabteil – (Im Stillen)

Zuweilen überfordert von so vielen sozialen Anlässen, rettet sich so mancher Gast auf seinem Heimweg in das Ruheabteil. Obwohl eine Zugfahrt durch die Schweiz selten länger als drei Stunden dauert, ohne dass man an die nächste Grenze gerät, erfanden die Schweizerischen Bundesbahnen eine Wohltat für geplagte Ohren. Man verbietet Telefongespräche und laute MP3-Player. C. F. Ramuz (1878–1947), ein bekannter Westschweizer Schriftsteller, erklärte einst: „Die ‚Schweizer‘ sind aktiv, aber innerhalb ihres Territoriums; sie kapseln sich ab, weil sie auf Ruhe bedacht sind. Und kann man nicht sogar sagen, dass sie dieser Ruhe, dank deren sie so fleißig an der Perfektionierung ihres eigenen Haushalts arbeiten können, alles geopfert haben.“ Mit diesem Statement fand er seine Ruhe, heute lächelt er selig von jeder 200-Franken-Banknote.

Eine solche zückt die Großmutter zur Beruhigung des Enkels dann doch noch aus dem Portemonnaie, legt sie neben das Goldvreneli und zieht von dannen. Nicht aber, ohne den Zehnjährigen zu herzen und ihn zum Abschied zu küssen. Endlich zeigt sich die wahre Leidenschaft der Schweizer, die großzügig ihre obligaten drei Küsse verteilen. Nicht nur zum Abschied, auch zur Begrüßung.

GINA BUCHER ist seit 1978 Schweizerin, ab August allerdings im Exil in Berlin