Fragen der Existenz

Zwischen Literatur und Reportage: wahre Geschichten von Anne Zielke

Am Anfang ist es nur ein weißer Punkt auf dem Ultraschallbild. Ein kleiner weißer Punkt in der Herzgegend, der auf eine mögliche Behinderung des Ungeborenen hinweist. Die Fruchtwasseruntersuchung bestätigt den Verdacht des Arztes: Das Kind hat ein Downsyndrom, mit sechsundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit. Doch der Entschluss der Eltern steht längst fest. Sie wollen das Kind – es ist ihr drittes – haben, trotz der negativen Reaktionen, die sie in ihrer Umgebung erfahren. Die Autorin Anne Zielke zeichnet das alles genau nach. Mit der bewussten, weder rational noch religiös begründeten Entscheidung für ein behindertes Kind stellen die beiden Elternteile infrage, was allgemein für ein gutes und was für ein schlechtes Leben gehalten wird. Und sie wecken Zweifel an der Aussagekraft einer Pränataldiagnostik, die glauben macht, es gebe eine klare Unterscheidung, „als sei das Gesunde und das Kranke von der Wissenschaft so absolut bestimmbar wie einst das Gute und das Böse von der Kirche“.

In ihren wahren Geschichten erzählt Anne Zielke von Menschen, die sich in einer Ausnahmesituation befinden und plötzlich aus der gewohnten Bahn geraten: da ist die Familie, die eine bisher unbekannte tödliche Krankheit über Generationen zurückverfolgt; der Mann, der sich auf einem Ecstasytrip verliert; oder das junge brasilianische Mädchen, das einen angeschossenen Hund sterben sieht. Wie schon in ihrer Novelle „Arraria“, mit der die 1972 in Dresden geborene Journalistin vor vier Jahren literarisch debütierte, wird eine unerhörte Begebenheit zum Anlass, über existenzielle Fragen, über Leben und Tod nachzudenken. Mit sparsamen Mitteln erzielt Zielke, die unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und das Magazin der Süddeutschen Zeitung schreibt, starke emotionale Effekte, ohne jemals in Effekthascherei oder Sensationslust zu verfallen.

So in der preisgekrönten Reportage „Die Frau, die vom Himmel fiel“ über die Russin Larissa Sawitskaja, die einen Flugzeugabsturz aus über 5.000 Meter Höhe überlebte. Den Lärm, die Eiseskälte, die Todesangst, Erinnerungsfetzen, das Abschiednehmen vom Mann, den Aufprall, die gespenstische Stille danach – all das schildert Anne Zielke präzise und äußerst plastisch. Und doch steckt dahinter eine tiefere Frage, die sie interessiert: Wie ist es, das eigene Sterben zu überleben?

Vom „Niemandsland zwischen Leben und Tod“ handelt auch „Die Eiskinder“, eine Geschichte einer Frau, die sich drei Embryonen eines anderen Paares hat einpflanzen lassen. Die genetischen Eltern, die sich einer künstlichen Befruchtung unterzogen, spendeten nach erfülltem Kinderwunsch ihre überzähligen, eingefrorenen Embryonen einer Agentur, die diese dann an unfruchtbare Paare weitervermittelt – nach britischem Recht völlig legal. Die Kinder sind inzwischen geboren und lernen gerade laufen. Die moderne Reproduktionsmedizin ist in den Familienalltag eingezogen, doch hinter der scheinbaren Normalität tut sich ein moralischer Abgrund auf. Wenn die Autorin von den „Legionen von Ungeborenen“, den Abfallprodukten einer „monströsen Menschenerzeugungs-Industrie“ spricht, die als reale Möglichkeiten menschlichen Lebens in flüssigem Stickstoff lagern, wechselt ihr Tonfall vom Medizinisch-Sachlichen ins Bizarr-Poetische.

Es ist diese Mischung aus Literatur und Reportage, die Anne Zielkes Geschichten unverwechselbar macht. Nüchtern protokolliert sie die Aussagen der betroffenen Menschen, reiht Tatsachen aneinander, fügt medizinische und technische Fakten ein, um den Leser unversehens mit einem Detail ins Herz zu treffen. In der Erzählung „Der weiße Fleck“ sind das die Wollschühchen, die eine anfangs noch ablehnende Großmutter dem Baby am Ende strickt.

MARION LÜHE

Anne Zielke: „Die Frau die vom Himmel fiel. Und andere wahre Geschichten“. Blumenbar Verlag, München 2008, 110 Seiten, 15,90 Euro