Die Milch macht’s – besser: die örtliche Molkerei

INDEPENDENT-IDYLL In Neustrelitz fand das zehnte – hoffentlich nicht letzte – Immergut-Festival statt

Das zehnte Immergut-Festival endet mit einem großen Moment. Beim allerletzten Song des Wochenendes wird die schwedische Rockband The Soundtrack Of Our Lives plötzlich leiser. Ebbot Lundberg, Sänger und Pfundskerl, lange Haare, weites Gewand, Wahnsinn in den Augen, stellt sich an den Bühnenrand und erklärt, dass jetzt etwas Besonderes passieren werde. „Setzt euch hin!“, ruft er. Die Leute gehen in die Knie, alle, bis in die letzte Reihe. Mit einer Kerze in der Hand steigt Lundberg von der Bühne. Er schüttelt Hände und nimmt Zuschauer in die Arme. Dann wird plötzlich die Band wieder lauter. Der Gitarrenriff geht auf die Menge nieder, die gar nicht anders kann, als aufzuspringen und zu tanzen – und Lundberg einfach so zu verschlucken.

Es könnte der letzte Song gewesen sein, der je auf einem Immergut-Festival gespielt worden ist. Denn ob es eine elfte Ausgabe dieses kleinen Indie-Wohlfühlfestivals geben wird, ist zurzeit noch unklar. „Vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass es auf jeden Fall weitergeht“, sagt Mirko Wegner. Mit seinem besten Freund Daniel Kempf organisiert er das Festival in seinem Heimatort. Aber Kempf hat sich entschieden aufzuhören. „Ich muss mal den Kopf frei kriegen, die Arbeit wächst einem ein bisschen über den Kopf. Es gibt viele Leute, die es gerne weitermachen wollen, weil es eine Herzensangelegenheit ist. Man weiß nur nicht, wie man das umsetzen soll.“ Ein Immergut ohne Kempf, der vor zehn Jahren die Idee hatte und der die Bands bucht, ist schwer vorstellbar.

Genauso schwer vorstellbar wie die Aussicht, dass man Ende Mai einfach nicht mehr nach Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern fahren kann, weil es kein Immergut mehr gibt. Die deutsche Festivallandschaft wäre um eins ihrer schönsten Exemplare ärmer. Einen Gegenentwurf zu den großen Festivals wollten Kempf und Wegner auf die Beine stellen. Ein Festival, das eben nicht teuer und überlaufen ist, bei dem die Musik im Vordergrund steht und nicht die Werbung des Brauereisponsors. Das war 1999, die beiden waren 20 Jahre alt. Es ist ihnen gelungen.

In Neustrelitz ist eine Molkerei Namensgeber. Die Besucherzahl ist auf 5.000 begrenzt. Der Ticketpreis ist niedrig, die Bierpreise sind okay. Natürlich gibt es Werbung, aber sie ist sehr dezent platziert. Die Helfer, ein großer Freundeskreis um Kempf und Wegner, arbeiten ehrenamtlich, der gemeinnützige Verein immergutrocken e.V. wurde eigens dafür gegründet. Es klingt stark nach Klischee, aber es ist halt einfach so: Die Leute hier sind alle freundlich. Thees Uhlmann von Tomte hat das irgendwann mal so ausgedrückt: „Beim Immergut haut dir die Security nicht aufs Maul, sondern auf die Schulter.“

Das Gelände liegt im Grünen, die Bühne ist umrahmt von Bäumen, ein Bummelzug fährt zu einem der vielen Badeseen in der Nähe. Die Fans schätzen die entspannte Atmosphäre – und das Wetter: In zehn Jahren regnete es nur zweimal, auch im Jubiläumsjahr scheint die Sonne. Es gibt zwei Bühnen, die Bands spielen zeitversetzt. Wenn man will, kann man sich jedes Konzert ansehen.

Viele Bands, die beim Jubiläum auftreten, haben in den letzten Jahren schon mal hier gespielt. Tomte und Kettcar sind mit dem Immergut groß geworden, die schwedischen Indie-Weirdos Friska Viljor haben ihren Ruf als Livegeheimtipp hier bekommen. Als Die Sterne zum ersten Mal hier waren, war das Immergut zum ersten Mal ausverkauft. Jetzt spielen sie am Freitagabend im Zelt. Es ist stickig und heiß bei gefühlten 99 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ständig tropft Kondenswasser von der Zeltdecke, ein Keyboard muss gewechselt werden, weil es zu nass geworden ist. Sie spielen die Hits, „Universal Tellerwäscher“, „Was hat dich bloß so ruiniert“, „Nur Flug“, „Die Interessanten“. Frank Spilker steht überraschend oft ohne Gitarre da, denn auf den neuen Songs (die Sterne nehmen gerade ihre neunte Platte auf) gibt es oft zwei Keyboards. Hier unterstützt sie Whitest-Boy-Alive-Keyboarder Daniel Nentwig, und das Immergut-Publikum erlebt repetitive, elektronisch anmutende Soundstrukturen mit viel Hall auf dem Gesang und Texten, die sich ständig wiederholen.

Ebbot Lundberg hat sich zurück zur Bühne durchgekämpft. Mit ausgebreiteten Armen steht er vor dem Publikum, das zum letzten Mal für heute applaudiert. „Ich hab gehört, das Immergut könnte es vielleicht nicht mehr geben“, ruft er. „Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Es wäre ziemlich schade!“ Großer Jubel im Publikum. BENJAMIN WEBER