Geschichte wird gemacht

MAUERFALL Carlo Ginzburg und Georges Didi-Huberman im intellektuellen Schaukampf

In der Geschichte stehen sich die Big-Names und die No-Names gegenüber, wie im Film die Rollen von Stars und Statisten

Das klingt nach Erkenntnisgewinn mit einer Portion Thrill. Georges Didi-Huberman und Carlo Ginzburg, zwei Denker, die sich ähnlichen Fragestellungen verpflichtet fühlen, haben sich erst einmal in persona getroffen. Es sei eine nur kurze Begegnung im kalifornischen Getty Center gewesen, die aber einen umso heftigeren Verlauf genommen habe, sagt die Leiterin des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Sigrid Weigel, zum ersten regulären Showdown der beiden Theoretiker in der Berliner Akademie der Künste. Um die Angelegenheit noch etwas spannender zu gestalten, hat man sich darauf geeinigt, dass die beiden Kontrahenten ihre Statements vorab nicht austauschen. Moderator Martin Treml stellt sich konsequenterweise als Schiedsrichter vor.

Wäre nur noch zu klären, wie der Ring abgesteckt werden soll: Seit dem Fall der Mauer, des Sinnbilds der Neutralisierung von Konflikten, sei Europa erneut zu einem Raum geworden, in dem Geschichte ereignishaft wahrgenommen wird, heißt es im Programm. Daher stelle sich die Frage nach den Akteuren der Geschichte neu, umso mehr, als die Finanzkrise die Wiederkehr der Staatsaktionen und der großen Ideen in Aussicht stelle. Die dringliche Frage sei daher, wer es verstehe, in die Zeitläufe einzugreifen und wer über die adäquaten Mittel verfüge, sie diagnostisch zu begreifen. Es gilt demnach, die Akteure der Geschichte genauso in den Blick zu nehmen wie die Werkzeuge, die es braucht, um deren Handeln erfassen zu können.

Historiker Carlo Ginzburg hält diese Frage keineswegs für eine intellektuelle Spielerei. Nicht nur zeigten neuere Erkenntnisse, dass Günter Schabowski in der berühmten Pressekonferenz im Jahre 1989 keineswegs aus Versehen den Fall der Mauer herbeigeführt habe. Das Zentralkomitee der SED habe diese Konferenz minutiös geplant. Vielmehr stelle sich die Frage nach der Rolle der Massen, deren zuerst rein private Entscheidung, der DDR via Ungarn den Rücken zu kehren, sich alsbald als laute Demonstration gegen das Regime lesen ließ. Noch komplexer werde die Situation für den Historiker, wenn man Freuds Feststellung ernst nimmt, dass das Ich keineswegs der Herr im eigenen Hause ist: Die Träume der Massen sind in keinem Dokument zu finden. Didi-Huberman interessiert sich aber nicht für die Mauer und tut das, was Kunsthistoriker gern tun, wenn sie in den Bereich von Politik und Alltag hinaustreten wollen: Er liest bei Benjamin nach, der bekanntlich die historiografische Äquivalenz von Akteuren und Siegern beklagt hat. Es stehen sich in der Geschichte demnach die Big-Names und die No-Names gegenüber, denen im Film die Rollen von Stars und Statisten entsprechen. Letztere heißen auf Französisch figurants, was Didi-Huberman unweigerlich zum Schlenker provoziert, die SS habe die Todgeweihten in den Lagern als Figuren bezeichnet. Die Statisten sind demnach die Plebs der Repräsentation, und Didi-Huberman geht es darum, den Stimmen der Namenlosen Gehör zu schaffen. Dieses Projekt sei doch längst erfolgreich, schlägt Ginzburg zurück. Der Fall der Mauer aber bleibe mysteriös, das Nachdenken über die kognitiven Prozesse in der Geschichte stehe noch am Anfang.

Didi-Hubermans Liebe zum Phänomen des Anachronismus, den er zugleich als entscheidenden Wesenszug von Bildern als auch als produktives künstlerisches Verfahren zu verstehen scheint, nutzt Ginzburg schließlich zu einer Geraden in die offene Flanke seines Kontrahenten: Dass Historiker mit gegenwärtigen Fragen an die Vergangenheit herantreten, sei seit hundert Jahren bekannt. Wer hier haltmache, begnüge sich mit der ideologischen Projektion der Gegenwart in die Vergangenheit.

Abgesehen von diesem Schlagabtausch, der kurz aufscheinen lässt, worum es gehen könnte, werden über weite Strecken taktische Scharmützel ausgetragen, in deren Verlauf man sich mit Auerbach, Gombrich und immer wieder Pasolini munitioniert und aneinander vorbeiredet. Am Ende erscheint Ginzburg als Sieger durch technischen K. o., auch wenn diese Einschätzung nicht ganz unumstritten ist im Publikum, das einigermaßen entnervt den Kampfplatz verlässt. ULRICH GUTMAIR