Dicker Protest am Anti-Diät-Tag : Fett gedisst

Die letzte Minderheit, die ungestraft diskriminiert werden darf: Dicke. Zum Anti-Diät-Tag am Sonntag wehren sie sich und kämpfen um Barrierefreiheit.

Miryana Colton, Mitglied des Teams „Padded Lilies“ („Gepolsterte Lilien“), schwimmt gegen Diskriminierung. Bild: Frederic Neema/ laif

BERLIN taz | Es war eine einmalige Gelegenheit. Eine herausgehobene Stellung als Wissenschaftlerin an einer großen Universität. „So was kriegt man nur einmal im Leben“, sagt Franka Müller*. Doch vor der Einstellung stand die Untersuchung beim Amtsarzt. Der stellte die junge Frau auf die Waage und schrieb in sein Gutachten: Zwar sei sie „derzeit gesund“, doch wegen einer „chronischen Krankheit“ könnte sie irgendwann dienstunfähig werden. Zur Verbeamtung sei die Forscherin deshalb „ungeeignet“. Und ohne Verbeamtung sollte sie den Job nicht kriegen.

„Ich wusste überhaupt nicht, welche chronische Krankheit das sein soll“, sagt Müller. Der Arzt erklärte es ihr: Adipositas, Grad II, gleichbedeutend mit einem Body-Mass-Index von 35 bis 40. Sich für den Job herunterzuhungern, kam nicht infrage. „Schon als Kind habe ich immer Diäten gemacht, das war jedes Mal eine enorme psychische Belastung. Außerdem glaube ich, dass Diäten gesundheitsschädlich sind.“ Für Müller war klar: „Das tue ich mir nicht an.“

Stattdessen suchte sie Rat bei Stephanie von Liebenstein. „Zu uns kommen jedes Jahr Dutzende solcher Fälle“, sagt die Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung (GgG). Darunter sind nicht nur Polizisten oder Feuerwehrleute, deren Beruf Beweglichkeit erfordert, „sondern zum großen Teil Leute mit Schreibtischjobs“. Der Staat fürchtet die Pensionslast, wenn die Dicken krank und deshalb dienstunfähig werden – und verweigert ab einem BMI von 30 meist den Beamtenstatus.

Der Body-Mass-Index ist eine Maßzahl, die das Körpergewicht ins Verhältnis zur Körperoberfläche setzt. Er errechnet sich als Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße.

Menschen mit einem BMI von mehr als 25,0 gelten als leicht übergewichtig, ab 30,0 sprechen Ärzte von Adipositas Grad I, ab 35,0 von Grad II, ab 40,0 von Adipositas Grad III.

Als bariatrische Chirurgie werden Eingriffe bezeichnet, die der Gewichtsreduktion dienen. Dabei werden oft gesunde Organe manipuliert. Beispiele dafür sind Magenverkleinerungen, das Einsetzen von Magenballons oder Magenbändern, die den Magen verkleinern und so den Appetit hemmen sollen.

Studien in den USA legen nahe, dass Patienten nach bariatrischen Eingriffen ein höheres Risiko für Erkrankungen, Unfälle und Suizid haben.

„Absoluter Unsinn“, sagt Liebenstein. „Keine Studie der Welt weist nach, dass selbst Menschen mit einem sehr hohen BMI nennenswert häufiger das Alter von 67 nicht erreichen oder vorzeitig dienstunfähig werden als Dünne.“ Der Forscherin sei es schließlich gelungen, ihre Einstellung durchzusetzen. „Aber das schaffen längst nicht alle.“

Willkürliche Grenzwerte

Rund die Hälfte aller Deutschen gilt als übergewichtig. „Diese Grenzwerte sind willkürlich festgelegt“, sagt der Sozialforscher Friedrich Schorb. Doch das Dicksein sei durchweg negativ besetzt: im Beamtenrecht, im Gesundheitswesen, in Medien und Alltag: „Dicke sind die letzte gesellschaftliche Gruppe, die man ungestraft diskriminieren kann“, sagt Schorb.

Die Gesellschaft zu ändern, nicht die Dicken, das ist das Ziel der GgG. „Wir wollen, dass die natürlichen Gewichtsunterschiede gewürdigt werden“, sagt von Liebenstein. Dabei könnten die Dicken „viel von der Schwulen- und Lesbenbewegung“ oder auch den Disability Studies – der Behinderungsforschung – lernen. Schließlich kämpfen auch die Dicken um Barrierefreiheit, etwa im Nahverkehr, oder um Schutz vor verbalen Angriffen.

Zum Anti-Diät-Tag am Sonntag hat die GgG den deutschen Medien geschrieben: Die würden Dicke „fast nur negativ“ zeichnen, zeigten sie als faul und gefräßig. „Fragen Sie sich einmal, ob nicht Ihre eigene Angst oder Abscheu vor dem Dicksein die Berichterstattung beeinflusst.“

Sechs Äpfel am Tag

Schließlich „brennen sich die Entwertungen in das Erleben dicker Menschen ein und werden unbewusst übernommen“, sagt die GgG-Aktivistin Sabine Fischer. Seit ihrem 6. Lebensjahr ist sie hochgewichtig. Schon im Grundschulalter habe die Familie sie von einer Diät in die andere gesteckt: sechs Äpfel am Tag, wochenlang. Mit elf Jahren kam sie in eine Kinderklinik, zur Nulldiät. „Ein Leben ohne Gewichtsdiskriminierung kenne ich in Ländern mit westlichem Einfluss nicht“, sagt Fischer. Beruflich habe sie Afrika bereist. Dort gilt Leibesfülle oft als Zeichen von Wohlstand – und als ansehnlich. „Dort zu sein, war eine unglaubliche und wohltuende Erfahrung“, sagt Fischer.

Beruflich trainiert die Pflegepädagogin Ärzte und Pfleger im Umgang mit Hochgewichtigen. „In meinen Seminaren stelle ich immer wieder massive Ressentiments fest. Dann heißt es: Die ’Fetten‘ sind ja eklig, die stinken, die machen nicht mit.“ Da sei es „manchmal schwierig, die Fassung zu wahren“ und in der professionellen Rolle zu bleiben. „Nach außen entsprechen viele Dicke dem Klischee: humorvoll und gesellig, gemütlich“, sagt Fischer.

Tatsächlich litten viele an einem „dramatischen Selbstwertverlust“: In ihre Beratungspraxis würden erwachsene Männer mit hohem BMI kommen, die „noch nie von einer Frau gestreichelt wurden“. Sie erlebe diese Klientel als „präsuizidal“, immer wieder hätten sie Interesse an sogenannten bariatrischen Operationen. „Das ist für sie die letzte Hoffnung, um dazuzugehören.“ Schwere Störungen des Körperschemas oder Zwangshandlungen sind mögliche Folgen solcher Eingriffe, sagt Fischer und nennt sie „mutwillige Verstümmelungen“. „Stattdessen müssen Dicke begreifen, dass sie trotz ihres Gewichts wertvolle Menschen sind.“

*Name geändert

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.