Debatte Arbeitslosigkeit: Demokratieabbau von oben

Die Bundesregierung hat die Reorganisation der Jobcenter vertagt - bis nach der Wahl. Damit signalisiert sie: Menschen ohne Arbeit sind für uns keine relevanten WählerInnen.

Alle rechnen derzeit im Zuge der schwersten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Generationen mit einer massiv ansteigenden Arbeitslosigkeit. In ihren Sog gerät auch Deutschland als größte Exportnation Europas. Von fünf Millionen Arbeitslosen ist die Rede, manche gehen von wesentlich höheren Erwerbslosenzahlen aus. Und was macht die Bundesregierung? Sie leistet sich einen Streit um die Neuorganisation der Jobcenter. Das ist nur noch als soziale Verantwortungslosigkeit einzuordnen.

Statt die Jobcenter schleunigst für den kommenden Ansturm fit zu kriegen, will sie die längst überfällige Neuorganisation erst nach der Bundestagswahl in Angriff nehmen. Damit beweist die Regierung einmal mehr, dass sie sich für die Schwächsten in der Gesellschaft nicht verantwortlich fühlt. Deutlicher kann man es kaum sagen: Langzeitarbeitslose und ihre Angehörigen - darunter auch zwei Millionen Kinder und Jugendliche - sind für uns als Wahlvolk uninteressant. Sollen sie doch warten.

Noch vor wenigen Wochen hatten die Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers (CDU), und Rheinland-Pfalz, Kurt Beck (SPD), sowie Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) im Auftrag der Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Kompromiss für die Neuorganisation der Arbeitsagenturen gesucht und gefunden. Unlängst stellte sich nun die Fraktion der CDU quer - einschließlich der Bundeskanzlerin - und unterminiert somit nicht nur die SPD, sondern auch ihre eigenen Ministerpräsidenten.

Das Bundesverfassungsgericht hatte Ende 2007 - vor 15 Monaten - die derzeitige Mischform Jobcenter aus Arbeitsagenturen und Kommunen für nicht verfassungsgemäß erklärt und eine Lösung bis 2010 gefordert. Mit der jetzigen Blockade des Vorschlags von Scholz, Beck und Rüttgers durch die Bundestagsfraktion von CDU/CSU wird die unverantwortliche Hängepartie zulasten der Hartz-IV-EmpfängerInnen weiter verlängert. Damit wird für viele Langzeitarbeitslose das "Fördern" - mithin die berufliche Eingliederung - weiter auf die lange Bank geschoben.

Und nicht nur das: Auch die annähernd 50.000 Beschäftigten in den Jobcentern werden in quälender Ungewissheit über ihre berufliche Zukunft gelassen. Die Beschäftigten aus beiden Ämtern, die sich in den letzten Jahren mühselig zusammengerauft haben, würden auseinandergerissen. Die in einem Herkulesakt aus dem Boden gestampfte gemeinsame EDV müsste wieder getrennt werden. Die mühselige Qualifizierung vieler Mitarbeiter aus den Kommunen für die schwierige Aufgabe der beruflichen Eingliederung Langzeitarbeitsloser wäre umsonst.

Abgesehen von diesen wahnwitzigen Kosten und Reibungsverlusten würden die betroffenen Hartz-IV-EmpfängerInnen wieder zwischen zwei unterschiedlichen Behörden hin und her geschickt. Genau dies zu überwinden, war jedoch die erklärte Zielsetzung der zu Recht ungeliebten Hartz-IV-Reform. Was nach einer solchen Entflechtung dann übrig bliebe, ist der unerträgliche Druck auf Langzeitarbeitslose mit dem unwürdigen Abdrängen in 1-Euro- oder 400-Euro-Jobs. Das bedeutet nichts anderes als Armut trotz Arbeit. Bei getrennter Organisation von Arbeitsagenturen und Kommunen werden - wie die Erfahrung gezeigt hat - Langzeitarbeitslose unter Androhung des Entzugs von ALG II noch leichter in derartige prekäre Arbeitsverhältnisse abgeschoben. Ihnen wird damit die Chance verbaut, sich etwa durch eine Weiterqualifizierung aus der Abhängigkeit von Hartz IV zu befreien.

Für dieses so ineffektive wie ungerechte System müssen wir als Steuerzahler rund 50 Milliarden Euro im Jahr aufbringen, mit steigender Tendenz. Schon bisher war ein Entkommen aus der "Hartz-IV-Falle" höchst unwahrscheinlich. In den Zeiten, die uns jetzt bevorstehen, dürfte dies überhaupt nicht mehr realistisch sein. Wen kann es da noch wundern, wenn die Politikverdrossenheit in breiten Schichten der Bevölkerung immer größer wird? Die wachsende Zahl der NichtwählerInnen muss als Alarmsignal einer zunehmenden Bedrohung unserer Demokratie verstanden werden. Immer mehr BundesbürgerInnen verlieren das Vertrauen in die Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise durch ihre Regierung. Über die Hälfte der Bevölkerung (55 Prozent), so zeigt der jüngste "Deutschlandtrend", kritisiert, dass die Bundesregierung den Überblick verloren habe, und mehr als die Hälfte (53 Prozent) sind in Sorge um ihre eigene wirtschaftliche Zukunft und um ihre Ersparnisse.

Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen Schlimmes befürchten: Die gewaltigen öffentlichen Schuldenbelastungen für die riesigen Rettungsschirme zugunsten der maroden Finanzbranche und der Not leidenden Wirtschaftskonzerne werden bald schon zu weiterem Sozialabbau führen. Entsprechend drohen in nächster Zukunft der Abbau sozialer Leistungen bei Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung sowie die Einschränkung öffentlicher Investitionen und Leistungen. Und alles sieht danach aus, dass die mittleren Einkommensschichten stärker belastet werden, um die geschröpften öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.

Die BürgerInnen und WählerInnen wissen, dass sie in diesem Mammutwahljahr wichtige Weichen für ihre politische Zukunft stellen. Der Streit um die Jobcenter macht deutlich, wie politische Schaukämpfe notwendige Lösungen zum Schaden von Millionen Menschen blockieren. Es ist höchste Zeit, in der Finanz- und Wirtschaftspolitik neue Weichen zu stellen, um die Binnenkonjunktur zu stärken. Dazu bedarf es einer gerechten Steuerpolitik, die den kalten Progressionsbauch für die mittleren Einkommen abflacht, Niedriglohnsektoren und Armut im Alter wirksam abbaut und die breiteren Schultern bei Einkommen, Gewinnen, Kapitalerträgen sowie Vermögen und Erbschaften stärker belastet. Gleichermaßen müssen die politischen Sündenfälle bei Hartz IV beseitigt, ein einheitlicher ausreichender gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, die unwürdigen 1- und 400-Euro-Jobs abgeschafft und der Weg in die millionenfachen Armutsrenten gestoppt werden.

Die große Koalition ist dabei, mit ihren wahltaktischen Manövern immer mehr Vertrauen zu verspielen. Es ist höchste Zeit, dass die Millionen Menschen - die heute und morgen Langzeitarbeitslosen, die Niedriglöhner und Armen - sich zur Wehr setzen. In unseren Nachbarländern sind ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften schon längst dabei, ihren Protest gegen die Topetagen der Wirtschaft sowie die Unfähigkeit der Politik deutlich zum Ausdruck zu bringen.

Auch bei uns müssen die Gewerkschaften endlich mit klaren Positionen und vernehmlicher Stimme dafür eintreten, dass die ArbeitnehmerInnen nicht weiter um Arbeit, Einkommen und soziale Sicherheit betrogen werden. Nur durch verstärkten Druck kann die Politik zur Verantwortung und Umkehr gezwungen werden.

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