Debatte Pflegeversicherung: Der Privatversicherungsbluff

Bei Rente und Pflege wird die private Vorsorge propagiert – pure Ideologie! Und es gäbe Wege, um die gesetzlichen Versicherungen zu stärken. Man muss nur wollen.

Der Aufschrei hält sich in Grenzen. Apathisch nimmt man zur Kenntnis, dass die Bundesregierung jetzt auch die Pflegeversicherung schrittweise privatisieren will. Eine kapitalgedeckte Zusatzversicherung soll Pflicht werden.

Rot-Grün hatte bereits die Rente durch die Riester-Verträge ansatzweise privatisiert und dies als alternativlosen Sachzwang gepriesen. Die üblichen Talkshow-Gäste jubelten und forderten noch mehr davon. Nach zwei Jahrzehnten der Reform-Berieselung ist das Glaubensbekenntnis in den Köpfen der Menschen tief eingeschliffen: "Die demografische Zeitbombe tickt. Jetzt hilft nur noch die private Vorsorge!" Rette sich, wer kann!

Es heißt, immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter stünden einer wachsenden Zahl von Senioren im Rentenalter gegenüber. Die Beitragszahlungen in die gesetzlichen Versicherungen reichten bald nicht mehr aus, um die sogenannte Altenlast zu tragen. Daraus folgt: Der fehlende Rest müsse durch private Versicherungen oder Sparpläne ergänzt werden, denn diese seien von der demografischen Entwicklung unabhängig.

lebt als freier Journalist in Hamburg und ist dort auch als Sozialpädagoge tätig. Zuletzt kritisierte er an dieser Stelle den Meinungsfragenpopulismus: "Der flexible Charakter".

Verblendung statt Information

Eigennutz statt Gemeinschaftssinn, so lautet die Botschaft. Verblendung statt Information: Denn die private Vorsorge ist pure Ideologie. Nichts von dem, was der Beitragszahler in seine private Lebensversicherung einzahlt, wird in seinem ganz persönlichen Tresor eingeschlossen und angesammelt.

Die privaten Versicherungen unterscheiden sich zunächst kaum von der gesetzlichen Rentenkasse. Sie nehmen auf der einen Seite Geld ein und geben es auf der anderen Seite wieder aus. Während bei der gesetzlichen Rente mit den Einnahmen die aktuellen Leistungen finanziert werden, investieren die Privaten das Geld überwiegend in festverzinsliche Wertpapiere: Pfandbriefe, Bankdarlehen, Staatsanleihen. Dort liegt die Verzinsung nur noch knapp über der Inflationsrate. Für die Lebensversicherungen wird es immer schwieriger, auch nur den gesetzlichen Garantiezins von 2,25 Prozent zu erwirtschaften. Je mehr Vorsorgekapital gewinnbringend angelegt werden muss, desto teurer werden Wertpapiere: deren Kurse steigen, die Renditen fallen. Am Ende ihrer Laufzeit müssen die Anleihen (ob öffentlich oder privat) vom Schuldner beglichen werden. Das angelegte Geld muss später über den Umweg der Versicherungen an die Beitragszahler zurückfließen.

Eine "demografische Katastrophe" würde auch dieses System zum Einsturz bringen. Wer soll in Zukunft die Zinsen zahlen und Kredite tilgen? Wie kann der Staat Banken und Schulden absichern, wenn die heutigen Steuerzahler vergreist sind? Auch Aktien können sich kaum rentieren, wenn das arbeitende Volk in den Fabrikhallen und Büros schwindet. Von nichts kommt nichts. Selbst wenn das Kapitalvolumen durch reine Spekulationsgeschäfte künstlich aufgepumpt werden kann, fehlen immer noch die realen Gegenwerte.

Keine demografische Bombe

Wenn, zugespitzt formuliert, in ferner Zukunft alle Deutschen oder gar Europäer vergreist sind, fehlen die Bäcker in der Backstube, die Bauern auf den Äckern. Geld, das sich unabhängig davon vermehrt, verliert seinen Wert, weil die Güter knapp und somit unbezahlbar teuer werden. Nur wenn Einzelne privat mehr vorgesorgt haben als all die anderen, genießen sie einen Vorteil. Sparen alle mehr, verpufft dieser Effekt. An der "demografischen Katastrophe" führt kein Trick vorbei.

Aber findet die tatsächlich statt? Wer heute allen Ernstes behauptet, mit den Künsten der Statistik die Zukunft in 50 Jahren voraussehen zu können, betreibt Magie - oder Demagogie. Die Zukunft ist ein offenes Projekt und wird es bleiben. Im Rückblick lässt sich ein demografischer Schwund nur mit der Lupe und viel Fantasie nachweisen.

In 2009 lebten 81,87 Millionen Menschen in Deutschland. Zehn Jahre zuvor waren es gut 82 Millionen - der Rückgang betrug gerade mal 0,25 Prozent. Gegenüber 1991 ist die Einwohnerzahl sogar um knapp zwei Millionen gestiegen. Dass die Deutschen immer länger leben, ist ebenso wenig eine Katastrophe, sondern ein riesiger Erfolg, den wir täglich feiern sollten. Der Nachwuchs fällt seit dem Pillenknick zwar geringer aus als vorher. Doch auch der Bedarf an Arbeitskraft ist seitdem deutlich geschrumpft.

Kamen 1970 noch 4,6 Menschen im arbeitsfähigen Alter auf einen Rentner, so sind es heute nur noch etwa 3,2. Glaubt man der statistischen Wahrsagerei, werden es im Jahre 2050 nur noch zwei sein. Die ideologischen Alarmglocken läuten, so oft diese Gebetsformel durch die Medienlandschaft hallt.

Immer weniger Arbeit nötig

Verschwiegen wird dabei bewusst, dass ein Arbeiter vor 40 Jahren kaum mehr als ein Drittel dessen produzieren konnte, was ein Beschäftigter heute leistet. Waren damals noch 4,6 Menschen im arbeitsfähigen Alter notwendig, um einen Rentner zu versorgen, so brauchen wir heute dank des technischen Fortschritts nur noch drei - oder noch weniger. Obwohl im vergangenen Jahr etwa vier Millionen Stunden weniger gearbeitet wurde als 1991, war das Bruttoinlandsprodukt rund 20 Prozent größer als damals: weniger Arbeit, mehr Rentner und höherer Wohlstand. Ist das nun ein Grund zur Panik - oder zur Freude?

Dass den gesetzlichen Versicherungen für Pflege und Rente dennoch das Geld auszugehen droht, liegt daran, dass die Früchte jenes Fortschritts an den Sozialversicherungen vorbeifließen. Beiträge werden nur auf Löhne und Gehälter entrichtet, nicht aber auf Gewinne. Während sich jene seit der deutschen Vereinigung mehr als verdoppelt haben, stagnieren etwa seitdem die Reallöhne. Durch weitere private Zusatzversicherungen schwindet noch mehr die Kaufkraft. Aber warum müssen die Gewinne auf Gedeih und Verderb für immer beitragsfrei bleiben? Der technische Fortschritt sollte sich wieder für alle lohnen.

Auch für die hocheffizienten Maschinen und die Software, die Arbeitskräfte millionenfach ersetzen, könnte der Staat Rentenbeiträge verlangen. Oder eine Wertschöpfungsabgabe auf jedes Produkt direkt am Fabriktor abführen? Dann ließe sich mit der "demografischen Zeitbombe" kaum noch Angst erzeugen. Die Lebensversicherungen stünden dann vor einem weiteren Problem.

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