Britisches Musikmagazin "The Wire": "Absolut unverkäuflich"

Das Magazin "The Wire" ist eine echte Ausnahme in der britischen Zeitungslandschaft. Es ist innovativ, kritisch und ganz anders als professionelle Langeweile des Popjournalismus.

"The Wire" hat viele deutsche Leser, die das Magazin am Kiosk kaufen. Bild: dpa

In einem Hinterhofbüro im Schatten der glitzernden Bankhochhäuser nahe der Bahnstation Liverpool Street im Londoner East End entsteht Monat für Monat das beste Musikmagazin der Welt.

Es heißt The Wire. Gestartet war es 1982 als Fachblatt für Jazz und E-Musik, um sich sukzessive allen Arten von experimentellen Klängen zu öffnen, die der Popmusik inbegriffen. Inzwischen steht The Wire in der Welt der Musikmagazine mit seiner Mischung aus Nachrichten aus dem Orchestergraben und Besprechungen von Dubstep-Maxisingles, Verehrung vergessener Freejazzhelden und Notizen aus Circuit-Bending-CD-R-Brennerstuben allein da. Die musikalische Peripherie, bei The Wire steht sie auf einmal im Zentrum des journalistischen Interesses. Und das wird mit der größten Selbstverständlichkeit gehandhabt.

"Adventures in Modern Music" verspricht The Wire im Untertitel, und meistens hält es diese Abenteuerlust auch. Coverstar der aktuellen Ausgabe ist der New Yorker Transvestit Anthony Heggarty. Vor zwei Monaten bekam diese Aufmerksamkeit das linke Elektronik-Kollektiv Ultra Red eingeräumt, das mit symbolischen Aktionen im öffentlichen Raum auf sich aufmerksam macht und seine Musik nur virtuell in Form von MP3-Dateien veröffentlicht. Eigentlich verbieten zeitgemäße Marketingstrategien Bescheidenheiten wie diese. The Wire kann sich überhaupt kein Marketing leisten. Trotzdem erwerben rund 20.000 Leser regelmäßig die Zeitschrift. Fast die Hälfte von ihnen sind Abonnenten. Viele Stammleser kommen aus dem Ausland, in letzter Zeit auch vermehrt aus nichtenglischsprachigen Ländern wie Japan oder Deutschland.

Die Macher der Zeitschrift (zurzeit ein 19-Jähriger Korean American, eine Norwegerin, ein Neuseeländer und ein germanophiler englischer Mittvierziger mit Schweizer Wurzeln) verstehen sich darum auch als Internationalisten. "In einer idealen Welt müsste gar niemand das Cover zieren", glaubt The-Wire-Herausgeber Tony Herrington. "In Wirklichkeit diktieren uns die Umstände die Coverstory. Was man erreichen möchte, ist die eine Sache, die andere sind unsere finanziellen Ressourcen. Manchmal müssen wir deshalb pragmatisch sein."

Strategische Nähe zu Plattenfirmen genießt The Wire jedoch nicht. "Unsere Leserschaft ist die Wald- und Wiesenindustrie. Ich würde sagen, wir pflegen zu dieser ein symbiotisches Verhältnis. Wir sind auf dem gleichen sozialen Level wie die Musiker, über die wir berichten. Das ist anders als zum Beispiel das rein kaufmännische Verhältnis zwischen dem Plattenmulti EMI und dem Mojo-Magazin. Wir halten uns für ein kritisches Journal und behalten uns das Recht vor, auch unstrategisch zu kritisieren. Das finde ich eher ungewöhnlich, denn genau damit kann die Respektkultur auch Schaden nehmen. Das muss aber so sein." Abenteuerlich sind auch die Umstände, in denen die rund 110 Seiten The Wire jeden Monat entstehen. Das Magazin wird von zwölf Menschen betreut, acht von ihnen arbeiten Vollzeit. Für Textnachschub sorgen freie Mitarbeiter aus der ganzen Welt. Mitarbeiterinnen sind bei The Wire in der Minderheit, trotzdem ist das Magazin keine Bastion alter Rock-n-Roll-Machos.

Bis zum Jahr 2000 war The Wire dem linksliberalen, auf feministische Literatur spezialisierten englischen Verlagshaus Quartet-Books angegliedert. Auch dessen Verleger, Naim Attalah, ließ der Redaktion stets freie Hand beim Inhalt. Seit acht Jahren erscheint The Wire nun, einmalig in der britischen Zeitungslandschaft, verlegerunabhängig. Das Magazin befindet sich seither im Besitz von sechs Redakteuren. "Wir sind klein, aber selbstbestimmt", verkündet Tony Herrington stolz. "Und absolut unverkäuflich. Nur wir entscheiden darüber, was ins Heft kommt, und beim Inhalt selbst machen wir keinerlei Zugeständnisse. Nicht mal für eine Million Pfund." Anzeigen für Lifestyleprodukte oder Superstars des Mainstream sucht man in The Wire vergeblich. "Die Anzeigen sind Teil des Editorials, sie sind komplementär zum Textinhalt und werden zumeist von Musikern, kleinen Labels oder Konzertveranstaltern geschaltet."

Anders als in Deutschland, wo 82er-Pop nach wie vor als Nonplusultra gilt und 1982 als Stunde null von kulturtheoretisch abgesichertem und mit allen kommerziellen Wassern gewaschenem Musikjournalismus - Anti-Hippie, Anti-Innerlichkeit und so weiter -, markiert die Jahreszahl 1982 in England den Verlust von musikjournalistischen Freiräumen und Popträumen. Damals wurden die Weeklies, die wöchentlich erscheinenden Musikmagazine wie NME, Sounds oder Melody Maker, stärker an die Verleger-Kandare genommen. Konkurrenzdenken und Auflagenhöhe wurden wichtiger als Inhalte, was schließlich auch zu gekauften Coverstories und letztendlich zur Einstellung von Sounds und Melody Maker führte. Lifestylejournalismus wurde zum beherrschenden Thema des Jahrzehnts.

"Das Klima im englischen Musikjournalismus war zu Beginn der Achtziger restaurativ", sagt Tony Herrington. "Statt ungewöhnlicher Texte mit durchgeknallten Ideen wurde Popjournalismus zur Brutstätte professioneller Langeweile." Viele ehemalige Weekly-Mitarbeiter aus der Postpunkära wanderten darum zu The Wire ab. "Unser Magazin hat enge Verbindungslinien zu Autoren wie Edwin Pouncey, Mark Sinker, Chris Bohn oder Simon Reynolds, die damals bei den Weeklies arbeiteten. Wir haben sie gern aufgenommen, und sie mussten sich für uns auch nicht stilistisch verbiegen", so Herrington. "Wir sind ungebunden, was die Richtung angeht, und verändern uns jeweils mit den unterschiedlichen Temperamenten unserer neuen Autoren und Redakteure." Mit ihnen entwickelte sich The Wire weg vom reinen Jazzblatt. "Wenn Kunstformen wie Hiphop oder Techno mit neuen Formen experimentieren, dann sehen wir es als unsere Aufgabe an, darüber zu berichten."

Der Ton in The Wire ist ernst und leidenschaftlich. Debatten werden mit einem romantischen Verhältnis zum Subjekt geführt. Zum Glück geschieht dies aber ohne haltlose Egozentrik oder turmhohen akademischen Jargon. Manche mögen das humorlos finden, nicht so der Herausgeber. "Wir wenden uns ausdrücklich gegen Mittelmäßigkeit, gegen öde und nüchterne Musikmedien. Da Englisch nicht die Muttersprache vieler unserer Leser ist, wollen wir auch nicht von oben herab dozieren", erklärt Tony Herrington. Es ist eher so, dass in The Wire auch musikalische Laien über die Komplexisten dieser Welt allgemein verständlich informiert werden.

Feste Kolumnen wie "Invisible Jukebox", in der Musiker ihnen unbekannte Platten vorgespielt bekommen und dazu etwas sagen, wurden von anderen Magazinen erfolgreich kopiert. "Epiphany", in der prominente Autoren über ein musikalisches Erweckungserlebnis schreiben, bleibt dagegen ein unkopierbares Juwel von The Wire. Jeweils auf der letzten Seite erzählt dann etwa die amerikanische Musikerin Laurie Anderson davon, wie sie für ihr Album "Songs and Stories from Moby Dick" die Originalbibel von Herman Melville nach seinen Anmerkungen durchsucht hat. Ein andermal schreibt der Musiker David Grubbs über radikal kurze Konzerte und den Unmut der Zuschauer. The Wire ist ein Magazin, das historisch-kritisch denkt. Oft bleibt die immerwährende Popgegenwart an der Oberfläche sogar ausgeblendet. Es schadet aber nicht. "Geschichte diktiert die Gegenwart und die Zukunft. Wenn man die Geschichte kennt, liefert einem das die Munition, um vorwärtszugehen", sagt Herrington.

"Bei The Wire geht es um Engagement. Als Autor braucht man zwei Dinge. Originelle Ideen und Leidenschaft für Musik." Der Preis für die Freiheit ist hoch, mit den Einkünften können sich die Redakteure im teuren London gerade so über Wasser halten. Die Kunst des Überlebens ist komplizierter als wirtschaftliches Kalkül. Gegenseitiger Respekt dominiert vor Statistiken. Das mag idealistisch klingen, aber die inhaltliche Unabhängigkeit wird von Herrington in einem Zeitalter der schwindenden Musikmagazine als höchstes Gut angesehen. Deshalb lassen sich nur manche Wire-Texte von der Homepage herunterladen. Man kann aber ein virtuelles Abonnement eingehen und bekommt das Magazin als File auf den Computer.

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