Unicef-Sprecher über Haiti: "Adoptionen sind keine Hilfe"

Die Hälfte der Bevölkerung Haitis sind Kinder. Nach dem Erdbeben brauchen sie keine Rettung im Ausland, sondern Hilfe vor Ort, sagt Rudi Tarneden von Unicef.

"Haiti hat nur eine Chance, wenn die Haitianer selbst gestärkt werden": Kinder in Port-au-Prince. Bild: dpa

taz: Herr Tarneden, die USA werben dafür, im Falle Haitis laufende Adoptionsverfahren zu beschleunigen und auch generell zu vereinfachen. Warum lehnt Unicef die Idee ab, jetzt Kinder aus Haiti zu adoptieren?

Rudi Tarneden: Solange nicht ausreichend geklärt werden kann, ob es noch Elternteile oder andere Verwandte im Land gibt, warnen wir ausdrücklich davor, Kinder aus ihrer Umgebung herauszureißen und außer Landes zu bringen. Für die Kinder ist das keine Hilfe, sondern enorm belastend, möglicherweise sogar traumatisierend.

Obwohl derzeit so viele Kinder in Lebensgefahr sind?

Mit einer Adoption kann man niemals vielen, sondern immer nur einzelnen Kindern helfen. Wir aber sind jetzt in der Situation, sehr, sehr vielen Kindern helfen zu müssen. Und das geht nur über eine Grundversorgung vor Ort. Der zweite Grund: Adoption ist kein Mittel der Entwicklungshilfe und schon gar nicht der Katastrophenhilfe. Adoptionen sind eine sehr individuelle Entscheidung von Erwachsenen, aber aus unserer Sicht muss das Interesse der Kinder im Mittelpunkt stehen.

Sehen Sie die Gefahr des Kinderhandels?

Ja. Haiti konnte auch schon vor der Katastrophe kein transparentes Adoptionverfahren garantieren. Die Regierung hat auch die Haager Konvention zu Auslandsadoptionen nicht unterschrieben.

War das beim Tsunami vor fünf Jahren auch so?

Nein. Damals haben die betroffenen Länder sofort einen Adoptionsstopp verhängt.

Wäre ein solcher Stopp auch für Haiti sinnvoll?

Für Neuadoptionen unbedingt. Jetzt geht es darum, den Kindern zu helfen. Eine Adoption ins Ausland kann, wenn überhaupt, nur die letzte Option sein. Einzelne Kinder jetzt aus dem Land zu holen, ist keine Lösung.

Wie hilft Unicef den Kindern vor Ort?

Unser Büro in Port-au-Prince wurde getroffen. Dennoch haben rund 100 Mitarbeiter die Hilfe angeschoben. Sie registrieren unbegleitete Kinder. Gemeinsam mit dem Roten Kreuz legen wir eine Datenbank an, damit die Suche nach Angehörigen eingeleitet werden kann. Es gibt eine Hotline, über die Eltern nach ihren Kindern suchen können. Wir sorgen dafür, dass Kinderheime auf die Liste des Welternährungsprogramms kommen, damit sie bei der Nahrungsmittelverteilung überhaupt berücksichtigt werden. Unicef organisiert die Verteilung von Trinkwasser und versorgt unterernährte Kinder mit Zusatznahrung.

Eine Befürchtung ist, dass die internationale Hilfsmaschinerie die Einheimischen vor allem als Störfaktor begreift. Medienbilder zeigen hübsche Babies und aggressive Erwachsene. Wie geht Unicef mit diesem Problem um?

Das ist eine Gratwanderung. In der international vermittelten Medienwirklichkeit wird häufig von oben nach unten kommuniziert: da unten das arme Opfer, da oben der gute Mensch aus dem Westen, der hilft. Tatächlich hat ein Land wie Haiti ja nur eine Chance, wenn die Haitianer selbst gestärkt werden. Das ist aber nur möglich, wenn man über die akute Hilfsphase hinausdenkt. Es geht also darum, Arbeit zu schaffen, Institutionen aufzubauen, in die Infrastruktur zu investieren. Nur so kann gewährleistet werden, dass Schulen nicht nur gebaut werden, sondern dass die Kinder in ihnen auch etwas lernen. Kinder stellen die Hälfte der Bevölkerung Haitis. Ihre Interessen müssen beim Wiederaufbau in den Mittelpunkt gestellt werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.