Reportage Elendsviertel: Fünf Stationen bis zur Gewalt

Keine Jobs, Drogen. Gewalt. Ein Besuch in Anacostia, dem sozialen Brennpunkt der US-Hauptstadt Washington D.C., nicht weit entfernt vom Amtssitz von Präsident Barack Obama.

Anacostia war früher ein gemischtes Viertel, heute sind 90 Prozent der Bewohner Schwarze. Bild: reuters

WASHINGTON taz | An der Station Navy Yard steigen die letzten Weißen aus. Dann fährt die Metro unter dem Anacostia River, einem Seitenarm des Potomac, weiter nach Anacostia. In diesem Viertel leben 77.000 der 592.000 Einwohner Washingtons. Neunzig Prozent sind schwarz, die restlichen zehn Prozent hispanischer Herkunft. Das Weiße Haus ist fünf U-Bahn-Stationen entfernt, zum Capitol sind es gut drei Kilometer, aber wer auf der anderen Seite des Flusses lebt oder arbeitet, kommt nicht nach Anacostia.

Das Polizeirevier, das für den 7. Distrikt zuständig ist, liegt in der Alabama Avenue. Durch die Glastür betritt man einen großen, runden Raum. Am Eingang stehen fünf Kaugummiautomaten, rechts davon ein Geldautomat, daneben eine Vitrine mit Auszeichnungen für verdiente Beamte. Darüber hängt eine Urkunde - eine Ehrung für die Verbrechensreduzierung. Seit 1960 wurden in Anacostia 3.000 Menschen ermordet, allein 1991 waren es 482. Das brachte Washington den Ruf ein, die "mörderische Hauptstadt" der USA zu sein. Inzwischen ist die Zahl der Morde auf rund 150 im Jahr zurückgegangen.

Nach einer Weile kommt Daniel Egbert. Der 33-Jährige ist einer der wenigen weißen Polizisten auf dem Revier. Er trägt die Uniform der Metropolitan Police: dunkle Hose und blaues Hemd mit Polizeiwappen, dem Capitol. Um den Hals hängt ein Funksprechgerät, rechts im Halfter steckt eine Pistole.

Er stammt aus Philadelphia. "Ich habe meine Ausbildung an der Polizeiakademie in Anacostia gemacht", sagt er. "Es ging zu wie in einem Militärcamp: Appelle, Betteninspektion, Kleiderkontrolle. Ich hatte Glück. Weil die Klimaanlage kaputt war, durfte ich abends immer nach Hause." Nach der Ausbildung musste er drei Präferenzen angeben. "Anacostia war meine dritte Wahl. Hier wird es nie langweilig, jeder Tag ist anders." An den Wochenenden fährt er manchmal nach Hause, bis Philadelphia sind es zwei Stunden.

Schräg gegenüber dem Polizeirevier, die 30. Straße hoch, kommt man zur W-Straße. Man findet sich in Washington schnell zurecht: Ausgehend vom Capitol sind die Straßen rechts und links nach aufsteigenden Zahlen benannt, nördlich und südlich nach Buchstaben.

In der W-Straße mit ihren bunten Reihenhäusern liegt hoch auf einem Hügel ein einzelnes großes Haus, das Frederick Douglass House. Douglass, der "Löwe von Anacostia", wurde 1818 als Sklave geboren. Er kämpfte für die Gleichberechtigung der Rassen und für das Wahlrecht der Frauen. Später stieg er zum US-Marshall auf. Das Haus kaufte er 1877, erweiterte es auf 21 Zimmer und lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1895. "Heute ist es ein Nationaldenkmal", sagt Egbert. "Das Frederick-Douglass-Haus zeigt den untergegangenen Charme des Viertels."

Bis in die Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lebten weiße Familien aus der Mittelschicht in Anacostia. "Dann stiegen die Hauspreise in der Innenstadt, und die ärmeren Leute zogen in die Gegend südlich des Flusses", sagt Egbert. "Außerdem baute die Stadtverwaltung massenhaft Sozialwohnungen." Fast ein Viertel der 10.000 Sozialwohnungen Washingtons liegen in Anacostia. Die Weißen fürchteten den Wertverfall ihrer Immobilien und zogen weg. "Seit den Achtzigerjahren ist Anacostia ein Schwarzenviertel", sagt Egbert.

28 Prozent Analphabeten

Bei Egberts weißen Dienstwagen, einem Ford mit roten und blauen Streifen, ist die hintere Bank durch ein Gitter abgetrennt. Vorn, zwischen den Sitzen, ist ein Laptop angeschraubt. Heute bekomme er keinen gefährlichen Einsatz mit Blaulicht und Sirene, weil er einen Zivilisten dabei habe, sagt Egbert. So hat er Zeit anzuhalten, als er einen alten, offensichtlich betrunkenen Mann am Straßenrand sitzen sieht. Er hält ein paar Dollar in der Hand, um ihn herum tanzen Kinder. "Sie werden ihm das Geld wegnehmen", sagt Egbert und steigt aus. Er führt den Betrunkenen zum Auto, setzt ihn auf die Rückbank und fährt ihn zum St. Elizabeths Hospital.

Das Krankenhaus wurde vom Kongress 1852 eröffnet, es war das erste staatliche psychiatrische Krankenhaus in den USA. Inzwischen ist es verfallen, aber in einem Flügel sind noch Patienten untergebracht: John Warnock Hinckley zum Beispiel, der 1981 den Präsidenten Ronald Reagan angeschossen hat, weil er der Schauspielerin Jodie Foster imponieren wollte. Hinter dem Krankenhaus, in einem desolaten Flachbau, ist das Heim für Obdachlose untergebracht. Dort gibt Egbert den Betrunkenen ab und lüftet danach das Auto.

Als er vom Krankenhausgelände fährt, werfen Kinder Steine nach dem Auto, ohne es zu treffen. "Wenn ich aussteige, rennen sie weg", sagt Egbert. "Sie mögen die Polizei nicht. Ich behandle sie mit Respekt und hoffe, dass sich das eines Tages auszahlt." Er kennt das Viertel wie seine Westentasche: "Du weißt, was dich erwartet. Eine Straße ist okay, in der nächsten ist es wie im dritten Weltkrieg."

Verschärft werden die Probleme durch Phencyclidin (PCP), auch bekannt als Angel Dust. "Manche werden ganz ruhig, wenn sie das Zeug geraucht haben", sagt Egbert. "Andere werden aggressiv, und sie sind dabei enorm kräftig. Eine Frau, sie wog höchstens 50 Kilo, hat sich so heftig ihrer Festnahme widersetzt, als ob sie 2 Meter groß und 150 Kilo schwer wäre. Ich brauchte Hilfe von vier Kollegen, um sie ins Auto zu schaffen." Bei schönem Wetter gebe es ständig Ärger, sagt er. "Deshalb liebe ich Regen. Dann bleiben die Leute zu Hause."

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