Nächster SPD-Kanzlerkandidat: Remember Scharping!

Die SPD will ihren nächsten Kanzlerkandidaten mit möglichst breiter Beteiligung küren. Das kann auch schiefgehen: Man erinnere sich an 1993. Da votierte die SPD "ganz offen" für Scharping.

Urwahlsieger und Kanzlerwahlverlierer: Rudolf Scharping trat 1994 als SPD-Spitzenkandidat gegen Helmut Kohl an. Bild: dpa

BERLIN taz | Den Volksparteien geht es nicht so besonders. Die Mitgliedschaft ist, wie bei Gewerkschaften und Kirchen, überaltert, der Nachwuchs bleibt aus. Die Jüngeren neigen, leicht bindungsscheu, zum sporadischen und situativen Engagement für Vogelschutzinitativen oder gegen "Stuttgart 21". Wer will schon Woche für Woche im Ortsverein die Tagesordnung abarbeiten?

Eine Studie hat kürzlich gezeigt, dass sich, wenn man die Summe der gesellschaftlichen Aktiven betrachtet, in den letzten zwanzig Jahren nichts verändert hat. 1991 waren gut sechs Millionen Deutsche Mitglied in gesellschaftlichen Organisationen, 2009 auch. Nur eben viel weniger in der SPD und viel mehr beim BUND.

Die Parteienverdrossenheit ist kein Totalschaden für die Demokratie, aber eine missliche Situation für die Volksparteien. Denn bei diesem Trend ist kein Ende absehbar. So weitermachen wie bisher geht nicht. Sigmar Gabriel will daher in der SPD mal ordentlich durchlüften. Die Partei soll ihren nächsten Kanzlerkandidaten vom Volk wählen lassen. Wer gegen Angela Merkel antritt, soll nicht in den berüchtigten Hinterzimmern ausgekungelt, sondern im öffentlichen Wettstreit entschieden werden. So wie in den USA, wo die Primaries mit fast ebenso viel Aufmerksamkeit bedacht werden wie die Präsidentenwahl selbst.

Die Vorteile dieses Verfahrens sind, jedenfalls auf den ersten Blick, bestechend. Es hat etwas Urdemokratisches, Offenes, jedenfalls, wenn man vermeidet, dass die KandidatInnenkür wie in den USA zu einer millionenschweren PR-Schlacht wird.

Ein praktisches Argument für die Urwahl lautet, dass der Kandidat durch das Säurebad einer öffentlichen Konkurrenz gehen muss. Und wer bei dieser Testwahl besser ankommt, hat wahrscheinlich auch bessere Chancen, bei der Bundestagswahl beim Publikum zu punkten. Dafür spricht auch, dass die SPD früher, als sie noch eine mächtige Partei war, den Kanzlerkandidaten stets zwischen eine halben Dutzend Länderministerpräsidenten auswählen konnte, die ihre Wahlkampftauglichkeit schon unter Beweis gestellt hatten.

Allerdings gibt es auch Gründe, dem Wundermittel Vorwahlen mit Skepsis zu begegnen. Denn das Votum der vielen, neudeutsch zur Schwarmintelligenz geadelt, kann auch völlig falsch sein, wie die SPD schon mal schmerzhaft feststellen musste. 1993 wählt die SPD-Basis einen neuen Chef. Die Argumente für diese Wahl klangen damals genauso einleuchtend wie heute: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Transparenz. Die Genossen votierten damals ganz transparent für Rudolf Scharping, der bis heute die Liste der glück- und erfolglosesten SPD-Parteivorsitzenden trotz harter Konkurrenz (Björn Engholm! Kurt Beck! Franz Müntefering!) unangefochten anführt.

Die SPD will nun vielleicht noch weiter gehen. Nicht nur die Genossen, vielleicht sollen, wie in den USA, alle, die wollen, mitwählen können. Das garantiert mediale Aufmerksamkeit. Allerdings gibt es gegen diese Öffnung ein prinzipielles Argument, das zu teilen man kein Parteibürokrat sein muss. Warum soll man überhaupt noch SPD-Mitglied werden, wenn man an einer der wichtigsten Entscheidungen, der Kanzlerkandidatur, auch ganz ohne Parteibuch und Mitgliedsbeitrag beteiligt sein kann?

So funkelnd die offene Wahl nach außen zu sein scheint, so zwiespältig ist sie. Im Grunde bedeutet sie, dass ein immobiles, aber verbindliches System ein Element des Unverbindlichen, Flüchtigen übernimmt. Das verspricht Rettung. Es kann genauso gut den Verfall beschleunigen.

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