Umfrage soziale Unruhen: Wird´s in Deutschland krachen?

Fünf Millionen Arbeitlose und kein Ende der Krise, sagen Wirtschaftsinstitute. DGB-Chef Sommer und Gesine Schwan warnen vor Unruhen. Zu Recht? Wären sie gar wünschenswert?

Eine andere politische Kultur: Continental-Mitarbeiter aus dem französischen Clairoix auf einer Demo gegen die Schließung ihres Werks. Archivfoto März 09. Bild: reuters

Soziale Stabilität ist ein Standortvorteil...

... meint Hans Olaf Henkel:

Zu sozialen Unruhen könnte es in Deutschland nur kommen, wenn wir denjenigen, die direkt und indirekt jetzt dazu aufrufen, nicht auf den Leim gehen! Es gibt kein Land vergleichbarer Größenordnung, in dem das soziale Netz so engmaschig gespannt ist. Allein das erklärt, dass die Krise bei vielen noch gar nicht angekommen ist und wenn, dann in sehr abgefederter Form. Alle, die Verantwortung tragen, auch und gerade Vertreter der Tarifpartner, müssen für Mäßigung sorgen, anstatt Öl ins Feuer zu gießen. Bisher war die soziale Stabilität ein klarer Standortvorteil. Wer auch diesen noch abschaffen will, setzt nicht nur die Zukunft unserer Wirtschaft und ihrer Arbeitsplätze aufs Spiel, sondern führt etwas anderes im Schilde: Der will ein anderes politisches System!

Der 69-Jährige ist ehemaliger Manager und Exvorsitzender des Bundesverband der Deutschen Industrie. Er lehrt heute an der Uni Mannheim.

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Die Regierung muss viel Geld lockermachen...

... sagt Opel-Betriebsratvorsitzender Rainer Einenkel:

Die sozialen Probleme sind riesig. Das zeigt sich nicht nur an der seit Jahren viel zu großen Zahl der Arbeitslosen. Auch von denen, die Arbeit haben, stehen viel zu viele finanziell schlecht da. Dies bedeutet sozialen Sprengstoff. Irgendwann werden die Menschen die Geduld verlieren. Jetzt kommt noch die Wirtschafts- und Finanzkrise hinzu. Immer mehr Menschen sorgen sich um ihren Arbeitsplatz.

Die Geiselnahmen in Frankreich zeigen, welche Lösungen verzweifelte Menschen suchen. Daraus kann sich eine Eigendynamik entwickeln, die von den Verantwortlichen genau beobachtet werden sollte - sie könnten zur Rechenschaft gezogen werden. Darum brauchen wir schnell ein gewaltiges Beschäftigungsprogramm, das gerade den industriellen Bereich stärkt. Die Regierung muss ganz schnell viel Geld lockermachen.

Der 54-jährige Elektriker ist seit 2004 Betriebsratsvorsitzender des Opel-Werks Bochum und Mitglied der Verhandlungskommission der IG Metall/NRW.

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Unruhen im Geiste der Bergpredigt...

... sind für Bischöfin Maria Jepsen denkbar:

Ich wünsche mir keine sozialen Unruhen in Deutschland. Aber ich kann sie nicht ausschließen, weil ich sehe, wie die Armut in unserem Land zunimmt. Für mich heißt das: Wir brauchen neben konkreter Hilfe für die Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht sind, dringend eine politische und gesellschaftliche Perspektive: Was heißt soziale Marktwirtschaft in den Zeiten der Finanzkrise? Wie sieht ein Gegenmodell zur herrschenden Unordnung aus?

Es kann ja nicht sein, dass die große Krise mit ein bisschen Abwrackprämie hier und ein paar Steuerreformen dort gelöst werden soll. Mehr Konsum löst nicht unsere Probleme. Wir brauchen andere Werte als den Wachstumswahnsinn, der uns immer wieder eingeredet wird.

Was ich mir wünsche, ist eine produktive und schöpferische Unruhe im Geist der Bergpredigt: "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Nicht weitermachen im alten Trott, sondern auf eine gerechte Ordnung drängen - das betrachte ich als Aufgabe der Kirche und der einzelnen Christinnen und Christen. Menschenwürde und Barmherzigkeit dürfen nicht zu Fremdwörtern werden.

Die 64-Jährige ist seit 1992 Bischöfin der Nordelbischen Kirche für die Region Hamburg und sitzt dem Evangelischen Missionswerk vor.

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Unruhen, ja bitte - aber nicht aus der Mottenkiste...

... sagt Thomas Seibert von Attac:

Soziale Unruhen wären nötig, unbedingt nötig. Ich bin mir aber nicht sicher, ob sie kommen werden. Denn trotz allen Geredes von der Krise und der Vergleiche mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 ist gegenwärtig wenig los. Es gibt ja auch keinen Vorschlag, für den man eintreten könnte.

Auffällig ist, dass weder die Gewerkschaften noch die Linkspartei im Moment viel Zuspruch erhalten. Deute ich das positiv, dann scheint, dass die Leute einem Rückgriff in die Mottenkiste fordistischer Ideen, die die Gewerkschaften und die Linkspartei anbieten, nicht trauen. Deute ich es negativ, heißt es, dass wir hier in Deutschland noch lange auf der Stelle treten werden.

Und es gibt die reale Gefahr, dass der zentrale Aufruf von rechts erfolgt. Es ist ja angenehm, dass es in dieser Hinsicht in Deutschland bisher sehr ruhig geblieben ist, nicht so wie in anderen europäischen Ländern. Wenn jetzt nichts von links kommt, besetzt die Rechte das ganze. Die Linke muss reagieren, von ihr muss ein Aufruf kommen, etwas, um das die Leute sich sammeln können. Und damit meine ich kein fertiges Programm, die Alternative selbst kann nur in einem Prozess kollektiver sozialer Unruhe entstehen.

Der 52-jährige Philosoph ist im Rat von Attac sowie im Netzwerk Interventionistische Linke aktiv.

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Auch der Mai 68 ist rübergeschwappt...

... meint Soziologe Klaus Dörre:

Niemand kann voraussehen, ob und wann es soziale Unruhen auch in Deutschland geben wird. Ich auch nicht. Trotzdem teile ich nicht die Einschätzung, dass es hier auf Dauer ruhig bleiben wird. Unter der Oberfläche brodelt es bereits.

Wir haben ganz aktuell die Leute in den Betrieben befragt und es zeigte sich: Der Unmut wächst. Entscheidend für Deutschland ist bisher, dass die Kurzarbeit noch viele Probleme abfedert. Die Frage ist jedoch, wie lange das halten wird. Eine Reihe von kleinen Unternehmen werden vor der Insolvenz stehen, und auch bei den großen Betrieben wird es massiven Personalabbau geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer Wirtschaftsstruktur, die ohnehin bereits eine stark prekarisierte Arbeitswelt hat, eine weitere Prekarisierung völlig folgenlos bleiben wird. In Frankreich gibt es eine viel größere Tradition an militanten Auseinandersetzungen und die Kultur, dass auf der Straße das korrigiert wird, was die Organisationen nicht hinbekommen haben. Die haben wir hier zwar nicht. Aber auch die Unruhen im Mai 1968 sind von Paris nach Deutschland herübergeschwappt. Ob der Protest aktuell ein Ventil im progressiven Sinne ist, vermag ich nicht zu sagen. Man kann von Glück sprechen, dass die Rechtsextremen derzeit so desorganisiert sind. Die Linkspartei wiederum hat das Problem, dass sie rhetorisch zurzeit von der Mitte überholt wird. Aber die IG Metall ist eine handlungsfähige Gewerkschaft und die Basis könnte die Funktionäre antreiben. Das Potenzial ist da.

Der 51-Jährige ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller Universität Jena.

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Eine kritische Masse entsteht bereits...

... sagt Bundestagsabgeordnete Katja Kipping:

Und alle Maßnahmen der Bundesregierung sind nur darauf ausgerichtet, dass sie die wirklichen Auswirkungen der Krise, das heißt die drohende Massenerwerbslosigkeit, nicht wirklich bekämpft. Stattdessen versucht sie bloß, die Probleme bis zum Tag der Bundestagswahlen zu deckeln.

Das, was mit Hartz IV bereits 7 Millionen Menschen betrifft, wird aber demnächst noch stärker in der Mitte der Gesellschaft ankommen - auch im Westen. Erst vor kurzem habe ich mit Vertretern des Beirats des dortigen Jobcenters gesprochen. Dort wurde deutlich, dass sich immer Menschen in die Sackgasse getrieben fühlen. Das Frustrationspotenzial ist hoch, und wenn sich diese Menschen zusammenschließen, dann halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass der Druck im Kessel weiter zunimmt. Wann dieser Kessel platzt, weiß ich nicht. Aber dass er platzt, ist sehr wahrscheinlich.

Zum Glück gibt es jetzt ein breites Bündnis, was bereits die Proteste zur Krise am 28. März vorbereitet hat. Und in diesem Bündnis sind sich alle einig, dass diese beiden Demonstrationen in Berlin und Frankfurt bloß der Auftakt waren. Am 16. Mai folgt der große DGB-Protest. Zusammen gibt es damit immerhin eine breite kritische Masse, die sich Gedanken macht, wie auf diese Krise weiter reagiert werden sollte.

Die 31-Jährige ist Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Linken.

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