Demo gegen den Überwachungsstaat: "Du bist unschuldig? Beweis es!"

Unter den herbstlich gelben Berliner Linden demonstrieren am Samstag Tausende gegen die Datensammelwut von Staat und Wirtschaft.

Wer gegen den überwachungsstaat demonstriert, wird genau registriert! Bild: dpa

BERLIN taz Die zahlreichen Touristen vor dem Wachsfigurenkabinett Unter den Linden sind begeistert: „Heute kannste auf der Straße gehen, da fährt kein Auto“, sagt eine mittelalte Frau zu ihrem Begleiter. Es ist Samstag nachmittag, Tag der Großkundgebung gegen die Datensammelwut von Staat und Wirtschaft.

Bei strahlendem Wetter hat die Polizei Berlins Hauptboulevard Unter den Linden gesperrt, um den von den Veranstaltern im Vorfeld erwarteten 30.000 Teilnehmern Raum für ihre Forderungen zu geben. Ein buntes Spektrum aus 117 Berufsverbänden, Gewerkschaften und Organisationen von Antifa bis FDP hatte unter dem Motto „Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn“ aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Auch in Wien, Paris und Prag demonstrieren an diesem Aktionstag Menschen gegen die europaweiten Trends zur Datenspeicherung.

Die Touristen vor „Madame Tussaud’s“ haben die Wahl: Wachs gucken gehen oder mitdemonstrieren. „Leute lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein“, schallt es aus den Reihen der meist jungen Leute an der Spitze des Zuges. Die erwarteten 30.000 sind es nicht geworden, zumindest noch nicht jetzt gegen 16 Uhr, zwei Stunden vor dem Höhepunkt am Brandenburger Tor. Die zahlreich vertretene Polizei spricht später von „in der Spitze etwa 15.000“ Teilnehmern. Die Veranstalter wollen auf Demonstration und Abschlusskundgebung insgesamt 100.000 Menschen gesehen haben.

Die meisten Teilnehmer der Demonstration sehen jünger als 30 aus. Einige haben Kamera-Attrappen aus Küchenrollen gebaut, die sie an Stangen den Polizisten und Passanten entgegen halten. „Du bist unschuldig? Beweis es!“, steht auf einem Pappschild an einer der Kamerastangen. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Daten klaut“, lautet einer der Sprechchöre. Einige rufen „Freiheit“, wo die anderen „Daten“ rufen. Das ist es, was die Demonstranten fürchten. Dass der „Spannerstaat“ in seiner Datensammelwut ihr Leben durchleuchtet, ihre Krankenakten studiert, ihre Gesprächs- und Surfdaten speichern lässt, ihre Gesichter scannt und ihre Fingerabdrücke sammelt – und dass er dabei keine Grenzen kennt, ganz nach dem Motto „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“.

„Mein Stuhlgang geht den Staat nichts an“, steht auf einem Pappschild, das eine junge Frau vor sich herträgt. Das sieht „der Staat“ hoffentlich genau so – die Demonstranten trauen ihm aber zu, dass sich das irgendwann ändert. „Egal, was wir tun, mit wem wir sprechen oder telefonieren, wohin wir uns bewegen oder fahren, mit wem wir befreundet sind, wofür wir uns interessieren, in welchen Gruppen wir engagiert sind“, heißt es in dem Demo-Aufruf, „der große Bruder Staat und die kleinen Brüder und Schwestern aus der Wirtschaft wissen es immer genauer“.

Auch gegen Unternehmen richtet sich die Wut, gegen den Online-Buchhändler Amazon etwa, der das Stöber- und Kaufverhalten der Kunden protokolliert. Auch Payback-Rabattkarten sind unter den Demonstrationsteilnehmern nicht gerne gesehen, weil die beteiligten Unternehmen mit den Daten sehr detailreiche Kundenprofile erstellen können.

Das Spektrum der Teilnehmer und Forderungen ist bunt, ein Karneval der Einzelmeinungen – und ein Indiz dafür, dass das Unbehagen über den Überwachungsstaat in vielen gesellschaftlichen Schichten wächst. Fußballfans wehren sich dagegen, mit Stadionverboten wie „Verbrecher“ behandelt zu werden. Die Mediziner der „Freien Ärzteschaft“ warnen vor der Erfassung von Patientendaten. Ihre gläsernen Beispielpatienten heißen „Paul Transparent“ und „Wieland Glasklar“. Die Grünen haben Blanko-Plakate ausgeteilt, auf die jede und jeder mit Filzstift seine Forderungen schreiben kann.

Die Kundgebung ist friedlich, das Anti-Konfliktteam der Polizei steht in seinen gelben Signalwesten am Rand und lässt sich die Sonne auf die Gesichter scheinen. Um 16 Uhr 05 dann ein kleiner Zwischenfall. Am Rande des Antifa-Blocks kommt es zu einer Rangelei. Mehrere Demonstranten drängen einen Teilnehmer aus dem Zug, weil er eine Jacke der bei Rechtsextremen beliebten Marke „Thor Steinar“ trägt. Sie treten und schubsen den jungen Mann. Was er noch getan haben könnte, ist im Gemenge nicht zu erkennen. Dick gepolsterte Polizeibeamte kommen angerannt, um den vermeintlichen Rechtsextremen in ihre Mitte zu nehmen. „Nazis raus“, erschallt es aus dem Zug. Eine Polizistin zeigt auf eine Demonstrantin, damit ihr Kollege an der Polizeikamera die Frau filmt. Medien berichten von weiteren kleinen Auseinandersetzungen bei der Abschlusskundgebung. Die Polizei spricht hinterher von einer „recht friedlichen Veranstaltung“.

Am Rande des Demonstrationszuges steht eine junge Frau, vielleicht Mitte 20. Vor ihre Brust hält sie ein Stück Zeichenkarton, auf das sie geschrieben hat: „Warum einem Staat vertrauen, der seinen Bürgern nicht vertraut?“

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