Jugendpsychiater über Ausgrenzungen: "Wir alle haben verrückte Anteile in uns"

Der Zeitmangel bei der Behandlung von psychisch Kranken führt mit dazu, dass Patienten als "gestört" oder "defekt" eingestuft werden, meint der Kinder- und Jugendpsychiater Christian Eggers.

Ausgrenzungen gehören für viele Psychiatriepatienten zum Alltag. Bild: imago/biky

taz: Herr Eggers, vor Kurzem ist Ihr neues Buch "Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters" erschienen. Ist dies als Resümee Ihrer jahrzehntelangen Arbeit zu verstehen?

Christian Eggers: Grundsätzlich wollte ich mit diesem Buch den betroffenen Menschen ein Denkmal setzen. Besonders die Nachuntersuchung von Patienten nach langen Zeiträumen von bis zu 67 Jahren war ungewöhnlich und ergreifend. Am meisten hat mich die hohe Sensibilität, Empfindsamkeit und Tapferkeit dieser jungen beziehungsweise erwachsen gewordenen Menschen beeindruckt, bei denen hohe menschliche Qualitäten erkennbar waren.

Sie betonen die Stigmatisierung als große Gefahr für die Erkrankten und als Teil der Krankheit?

CHRISTIAN EGGERS war 25 Jahre lang Direktor der Rheinischen Klinken für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls in Essen. Mit der Eggers-Stiftung hat der Kinder- und Jugendpsychiater vor über zehn Jahren ein Modellprojekt ins Leben gerufen, das erkrankten jungen Menschen den Weg zurück in die Gesellschaft ebnet. Gerade ist sein Standardwerk "Schizophrenie des Kindes- und Jugendalters" erschienen. Er warnt vor der gesellschaftlichen Stigmatisierung Betroffener.

Die jungen Menschen, die wir beispielsweise in der Stiftung unterstützen, erbringen eine unglaubliche moralische Leistung, da sie trotz ihrer Beeinträchtigungen nicht aufgeben, weiterkämpfen - für ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Ich habe größten Respekt vor diesem Verhalten. Deswegen ist deren Stigmatisierung völlig unangebracht, sie ist auch gefährlich. Durch Diskriminierung wird das Selbstwertgefühl der Patienten geschädigt. Die soziale Benachteiligung reduziert wiederum deren Fähigkeit, positive Erwartungshaltungen und ein positives Selbstbild zu entwickeln, was die Krankheit letztlich verstärkt oder wieder aufleben lässt. Das ist ein Teufelskreis.

Aber ist die moderne Gesellschaft gegenüber Menschen mit psychischen Problemen nicht offener geworden?

Psychisch Kranke sind schon immer entwertet worden, bis hin zu den Morden im Dritten Reich. Als wir Ende der 90er Jahre die Stiftung gründeten, kam es in dem Essener Stadtteil, in dem wir das Haus Trialog einrichteten, bei Bewohnern in der Nachbarschaft zu einer Unterschriftenaktion, um das Projekt zu verhindern. Die dachten, da kommen jetzt "Kinderschänder" und "Verbrecher". Der Begriff "schizophren" wird oft, auch in den Medien, in einem negativen Zusammenhang benutzt.

Im alltäglichen Gebrauch werden damit Menschen als verrückt und außerhalb der Gesellschaft stehend abgestempelt. Und damit "ich" nicht außerhalb stehen muss, muss "ich" mich schnell anschließen und meinerseits entwerten. "Ich" muss konform sein. Aber "ich" muss mitmachen, "ich" muss die entwerten, die "anders" sind: Kranke, Migranten, Homosexuelle, Minderheiten aller Art.

Wie kommen diese Vorurteile in einer Gesellschaft, die sich als so aufgeklärt gibt, zustande?

Wir alle tragen "verrückte" Anteile in uns, die schambesetzt und deshalb schmerzhaft sind. Schmerzhafte Gefühle können aber von einem schwachen "Selbst" nicht zugelassen werden. Stattdessen werden sie stellvertretend beim anderen verfolgt.

Sie haben die Entwicklung in der Psychiatrie selbst über Jahrzehnte beobachtet und als Akteur auch mitgeprägt. Wie bewerten Sie die Qualität der Hilfe, die geboten wird?

Es besteht oft ein Mangel an personellen Ressourcen. Das heißt den ärztlich, pädagogisch und therapeutisch tätigen Bezugspersonen fehlt die Zeit, sich in ausreichendem Maß dem psychotisch Kranken zuzuwenden und in all ihrer fachlichen und menschlichen Kompetenz für den Patienten verfügbar zu sein. Dieser Zeitmangel verführt dazu, den Patienten als "gestört", "defizient" oder gar als "defekt" zu deklarieren und sich zum Beispiel auf eine rein pharmakologische Behandlung zu beschränken, die natürlich für sich allein genommen keinesfalls ausreichend ist.

Auch besonders im Akutstadium bedarf der Patient einer intensiven personalen Zuwendung - unter anderem mit dem Ziel der Entängstigung und des Aufbaus von Vertrauen. Voraussetzung ist hierfür die volle Wertschätzung und Akzeptanz des Patienten - auch in seiner Wahnhaftigkeit, scheinbaren Unverstehbarkeit und Absonderlichkeit.

Was raten Sie?

Arzt und Patient sollten gleichrangige Partner werden, sich auf der gleichen Ebene bewegen, ohne dass moralische Bewertungen oder Ratschläge erteilt werden. Natürlich: Trauer und Verzweiflung auszuhalten, ist anstrengend. Aber die Patienten sind schon dankbar, wenn man versucht, sie zu verstehen. Dann entwickelt sich eine Beziehung, bei der so unendlich viel zurückkommt, etwas Besonderes, das man kaum in Worten fassen kann.

Es ist schwer zu glauben, dass gerade in der Psychiatrie Patienten und Ärzte zu Partnern auf gleicher Ebene werden.

Es ist aber absolut notwendig, zu einer ganz intensiven personalen Beziehung zwischen Arzt und Patient zu kommen. Das ist sehr zeit- und kraftaufwendig, gerade wenn der Patient in einem akuten Zustand ist. Auch in diesem Stadium ist die Einbeziehung der Angehörigen von großer Bedeutung. Denn sie dürfen mit ihren Ängsten, ihrer Ratlosigkeit und ihrer Verzweiflung nicht alleingelassen werden. Und von Anfang an sind die diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen mit ihnen zu besprechen, wobei den Ansichten und Vorschlägen der Eltern respektvoll begegnet werden muss. Denn sie unternehmen viel, um sich ihrerseits über die Erkrankung zu informieren und entwickeln sich mit der Zeit zu Experten.

Provoziert das nicht die "Halbgötter in Weiß"?

Wir gehörten damals, Ende der siebziger Jahre, zu den wenigen, die bewusst keine weißen Kittel mehr getragen haben. "Das sind ja keine richtigen Mediziner - da sind die Kinder nicht ans Bett gefesselt, die laufen ja frei rum" - das warfen uns damals Kollegen vor.

Wie kam es zur Gründung der Stiftung?

Es stellte sich heraus, dass der Zeitrahmen in der Klinik überhaupt nicht ausreicht, um zu einer ausreichenden Stabilisierung des Patienten zu gelangen. Es ist unbedingt notwendig, die in der Klinik begonnene therapeutische Arbeit fortzuführen. Ziel ist die allmähliche Verselbstständigung der Patienten und deren Reintegration in die Gesellschaft.

Dies ist deshalb so wichtig, weil 70 Prozent der betroffenen jungen Leute im Alter von 30 Jahren noch keine abgeschlossene Berufsausbildung haben und auf finanzielle Unterstützung durch Familie und die öffentliche Hand angewiesen sind. Sie sind oft nicht in der Lage, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Ein wesentliches Ziel der poststationären Betreuung in unseren pädagogisch-therapeutischen Wohngruppen ist die Verhütung von Rückfällen und die Verhinderung einer Chronifizierung der Psychose.

Ihre Einrichtung in Essen gilt als vorbildlich. Einen Ableger gibt es in Düsseldorf, einer entsteht jetzt in Würzburg. Was machen Sie anders als andere?

Ob wir etwas anders machen als andere, kann ich nicht beurteilen. Wir wollen jedenfalls gemeinsam mit den erkrankten jungen Menschen und deren Angehörigen einen Austausch auf Augenhöhe führen. In der Regel sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwei Jahre bei uns. Viele von ihnen erwerben Schulabschlüsse, manche sogar das Abitur oder das Fachabitur. Die meisten von ihnen gehen anschließend in sozialtherapeutische Wohngruppen, um später dann weitgehend eigenständig zu sein.

Haben alle jungen Erkrankten solche Möglichkeiten?

Grundsätzlich gibt es zu wenig Einrichtungen dieser Art. Allein in Essen haben wir pro Jahr über 100 Anfragen aus ganz Deutschland. Abgesehen davon, dass wir im Jahr nur etwa zwischen acht und zehn junge Menschen aufnehmen können, sollte es so sein, dass auch die Angehörigen in der Nähe leben, damit wir gemeinsam arbeiten können. Es ist wichtig, dass noch mehr Einrichtungen dieser Art entstehen.

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