100 Jahre Gegenwart im HKW: Uns entgleitet die Zeit

Zum Auftakt des Projekts „100 Jahre Gegenwart“ entwirft das Berliner Haus der Kulturen der Welt einen vielgestaltigen Möglichkeitsraum.

Eine junge Frau läuft durch eine Installation aus Batiktüchern

Zelte aus Tüchern: Reto Pulvers Installation „Dehydrierte Landschaft des Zustands“. Foto: Stephanie Pilick/HKW

Schneller, immer schneller! Menschen müssen einen Zeitplan befolgen, Fristen einhalten, immer mehr Aufgaben gleichzeitig erledigen. Wir dürfen nichts verpassen! Daten kämpfen um unsere Aufmerksamkeit. Stress! Mit Listen und Plänen versuchen wir die Zeit zu kontrollieren, doch sie entgleitet uns. Visionen der Zukunft verschwinden am Horizont. Wir müssen pünktlich sein, versuchen Schritt zu halten. Um Zeit zu sparen, entwickeln wir Technologien, die jedoch das Gegenteil bewirken: Unser Leben beschleunigt sich.

Dem Phänomen der Beschleunigung setzt das Haus der Kulturen der Welt (HKW) nun das auf vier Jahre angelegte Langzeitprojekt „100 Jahre Gegenwart“ entgegen. Es beschäftigt sich mit den Gegenwarten der letzten hundert Jahre. Es gehe dabei nicht um eine Erinnerungskultur, betont Intendant Bernd Scherer bei der Eröffnung am Mittwoch, sondern um einen Möglichkeitsraum. Die Potenziale der Vergangenheit für unsere heutige Welt stehen im Vordergrund. Was können wir aus früheren Prozessen und Entscheidungen lernen?

Zum Auftakt hat das HKW KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und ZeitbeobachterInnen eingeladen. Fünf Tage lang fanden Vorträge statt, gab es Installationen, Performances und Konzerte. Das komplexe Themengebiet präsentierten sie auf hohem künstlerischem und wissenschaftlichem Niveau, weshalb es nicht immer einfach war zu folgen. Manche RednerInnen ratterten ihre vor Fachbegriffen strotzenden Texte hinunter. Durch die Vielfalt des Angebots bekamen jedoch alle die Chance, einen Zugang zu finden.

Nächste Veranstaltungen:

23.10.-14.12.2015 „Wohnungsfrage: Ausstellung, Publikationsreihe, Akademie“ab 1.11.2015 „Technosphärenklänge“

Weitere Informationen unter www.hkw.de

Den Willen zur Entschleunigung spürt man bereits im Foyer, das der Schweizer Künstler Reto Pulver in eine Landschaft aus Tücherzelten verwandelt hat. Die großräumige Installation „Dehydrierte Landschaft des Zustands“ lädt ein, zur Ruhe zu kommen. In einer Performance spielt ein Mann darin stundenlang Entspannungsmusik auf einem weißen Digitalflügel. Daneben befindet sich eine abstrakte Massageliege. Ein Brunnen plätschert.

Die Beiträge sind auf hohem Niveau, ihnen zu folgen war nicht immer einfach

Noch psychedelischer war die Performance „Anti-forward“. In einer der Höhlen aus Batiktüchern sitzen und liegen die BesucherInnen auf dem Teppichboden. Es wird Tee herumgereicht. Reto Pulver entlockt seiner E-Gitarre besänftigende Klänge. Seine Künstlerkollegin Mia von Matt spricht mit betörender Stimme: „faint, far between long and death, turbulent stream“.

Reale und imaginäre Traumata

Neben dem Thema Zeit beschäftigte sich das HKW mit den Zusammenhängen technologischer, menschlicher und natürlicher Kräfte. Technosphäre nennt der Geowissenschaftler Peter K. Haff dieses Zusammenwirken. In seinem unterhaltsamen Vortrag erklärt er mit Strichmännchen-Zeichnungen, dass die Technologie eine gewisse Autonomie besäße. Er vergleicht den Menschen mit einem Molekül in einer Welle. Die Moleküle hätten die Welle kreiert, aber folgten ihrer Bewegung. Viele Menschen würden glauben, wir könnten Technologie kontrollieren. Autorität hätten wir jedoch nur lokal. Das System steuere sich selbst.

Was beeinflusst wen, fragt man sich auch beim „komprovisierten“ Konzert am Donnerstag, bei dem Mensch und Maschine konkurrieren. Felix Del Tredici lässt seine Alt-Posaune heulen, flattern und wummern. Ein Computer reagiert mit ähnlichen Klängen und fordert ihn heraus. Der Komponist Navid Navab manipuliert wiederum den Computer. Daraus entsteht eine interaktive Mischung aus Wettkampf und Zusammenspiel, Komposition und Improvisation.

Einen weiteren Schwerpunkt bildete das Thema Krieg. Die Anthropologin Lucy A. Suchman untersucht, was reale und imaginäre Traumata miteinander verbindet. In einem Video sieht man, wie US-Soldaten in einer Simulation trainieren, um sich auf den Einsatz im Irak vorzubereiten. Ihre Gesichter sind voller Angst, sie atmen schnell. Nach der Übung erzählt ein G.I., dass er einen Zivilisten getroffen hätte. Er lächelt verlegen. „I’m glad it only happened on the screen.“

Hervorragend waren die drei Konzerte. Die Münchner Band F.S.K. fasziniert mit einem Rhythmus, der klingt, als würde eine Horde Soldaten im gleichen Tempo rennen. Am Ende zertrümmert der Schlagzeuger mit einem Beil das Klavier, auf dem er zuvor noch gespielt hat. In ihrem rockigen Konzeptalbum zeigt die Hamburger Band Trümmer die Gefahren von Ideologien auf. Sie erzählt die Geschichte des jungen Vincent, der – orientierungslos und auf Sinnsuche – in den Krieg im Nahen Osten zieht. „Kalifat errichtet!“, ruft der Sänger Paul Pötsch mit seiner ausdrucksstarken Stimme.

Bedrohliche Geräusche

Auf die Spitze treibt es das Solisten-Ensemble Zeitkratzer mit seiner „Vaterländischen Ouverture“. Sie kreieren eine bedrohliche Geräuschkulisse und Musikstücke, die vor 100 Jahren für den Krieg begeistern sollten. Der Schauspieler Maximilian Brauer singt voll Patriotismus zu den Stücken von Bach und Wagner. Beim letzten fordert er das Publikum auf, sich zu erheben und mitzusingen. Eine absurde Situation entsteht.

HKW-Intendant Bernd Scherer erklärt, dass der Erste Weltkrieg der erste Konflikt gewesen sei, der mit Armbanduhren geführt wurde. Dies ermöglichte synchronisierte Kriegsführung. Es war der Beginn unserer heutigen Vorstellung von Zeit wie auch unseres kapitalistischen Denkens.

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