100 Jahre Oktoberrevolution: Der Tod der Revolution

Ist 100 Jahre nach 1917 ein gewaltsamer Umsturz möglich? Die globale Ungleichheit ist kaum geringer als damals. Und doch ist heute fast alles anders.

Alter Mann steht auf einem Podium, zu ihm schauen zwei Dutzend Menschen auf

Ist das etwas Neues? Der linke US-Politiker Bernie Sanders 2017 Foto: Reuters

Die Revolution verlief unscheinbar. Die Straßenbahnen fuhren am 25. Oktober 1917 in Petersburg. In der Oper wurde „Don Carlos“ gegeben. Ein paar Tausend Bewaffnete eroberten, angeführt von Leo Trotzki, in dieser Nacht das Winterpalais, das vormals Stadtsitz des Zaren gewesen war und nun die wankende Regierung beherbergte. Die Bolschewiki hatten bis zum letzten Moment gezögert. Doch es ging alles wie von selbst. Die Regierung wurde fast ohne Widerstand verhaftet. Die Polizeiberichte verzeichneten keine besonderen Vorkommnisse.

Das Bild der Massenrevolution schuf Sergei Eisenstein 1927 in seinem Film „Oktober“. Da rauchte Pulverdampf, Soldaten und aufgebrachtes Volk stürmten Barrikaden. „Oktober“ entwarf eine historisch ziemlich inkorrekte Ikonografie der Machtergreifung, die nach der Vorlage des Sturms auf die Bastille 1789 zum Volksaufstand retuschiert wurde. „Um der Wahrhaftigkeit willen darf man sich erlauben, der Wahrheit die Stirn zu bieten“, so Eisensteins listige Erklärung.

Für das Faszinosum der Revolte gibt es in „Oktober“ ein knappes, präzises Bild. Ein Soldat mit groben Gesichtszügen, die Verkörperung des bäuerlichen, ewig drangsalierten Russland, läuft staunenden wie ein Kind durch die noblen Schlafgemächer des Zaren im Winterpalais. Beim Blick auf die edle Toilette des Zaren löst sich die Spannung im Gesicht des Soldaten in befreites Grinsen.

Der Bauer im Palast. Die scheinbar für die Ewigkeit gemachte Hierarchie steht auf dem Kopf. Wenn es ein Bild für die Strahlkraft der Oktoberrevolution gibt, dann ist es dieses: der Aufstand als karnevalistisches Fest. Tabula rasa. Am Ende dieser Revolution, die keine war, plündern Aufständische und Passanten den Weinkeller des Zaren und veranstalten ein Massenbesäufnis. (Was Eisenstein, so viel Wahrheitsliebe gab es dann doch, andeutete.)

Nicht Revolution, sondern Bürgerkrieg

Faktisch war der 25. Oktober (in unserem Kalender der 7. November) nicht der Sieg der Revolution, sondern der Beginn eines äußerst brutalen Bürgerkriegs. Die neuen Machthaber waren isoliert. Ihre Führung kam aus der Emigration, sie bekämpfte alle, die sich ihrem Machtanspruch widersetzten – Anarchisten und Bauern, Militärs und Sozialisten. So errichten die Bolschewiki eine mit Befreiungspathos begrünte Diktatur. Der Linkssozialist Karl Kautsky urteilte 1919, dass das „Erschießen das A und O der kommunistischen Regierungsweisheit geworden ist“.

Auch die von Lenin zentralistisch modellierte Partei wurde nach und nach kaltgestellt. Es kam so, wie es Trotzki schon 1903 befürchtet hatte: Die Partei wurde von Kadern regiert, die Kader vom ZK, das ZK von einem Diktator.

Ist von all dem hundert Jahre danach noch etwas brauchbar? War der 25. Oktober ein Irrtum, eine historische Sackgasse? Oder fehlt noch die Distanz für ein Urteil? So wie es das Bonmot des chinesischen Premiers Tschou En-lai nahelegt, der einst auf die Frage des US-Präsidenten Richard Nixon, was er von der Französischen Revolution halte, antwortete: „Es ist zu früh, um das zu sagen.“

Die Höhe der Leichenberge entscheidet nicht über die Zukunftsfähigkeit eines Systems

Der Terror, den Lenin begründete und Stalin in einem paranoiden System perfektionierte, ist kein Grund, warum der Real­sozialismus keine Zukunft haben könnte. Die Höhe der Leichenberge entscheidet nicht über die Zukunftsfähigkeit eines Systems. Dafür ist der Westen, der jahrhundertelang die restliche Welt versklavt und ausgebeutet hat, ein schlagendes Beispiel.

Doch der Realsozialismus wird im Museum bleiben, weil er, anders als die Revolution 1789 mit der Republik, keine brauchbare politische Form erfunden hat. Der Preis für Lenins kalte Machteroberung war, dass das Sowjetsystem zu einem Ebenbild des Zarismus wurde. Es herrschte ein „roter Zar“. Die neue Adelsklasse hieß Nomenklatura. Der sowjetische Feudalsozialismus war unfähig, eine produktive Wirtschaftsform zu kreieren.

Lenins Leichnam als Metapher

Weil in Diktaturen Bürger meist nur in der Rolle als Untertan, Claqueur oder subversive Gefahr auftreten können, liegt deren Kreativität brach. Diktaturen sind in der Regel unproduktiver und, schon wegen des Überwachungsapparats, kostspieliger als offene Gesellschaften. Lenins seit 93 Jahren einbalsamierter Leichnam ist insofern eine zutreffende Metapher für dieses System.

Doch der liberale Kapitalismus als Sieger der Geschichte war auch nur eine Seifenblase, die nach dem Mauerfall 1989 aufstieg und schnell zerplatzte. Der entgrenzte Kapitalismus schafft groteske Ungleichheiten. Die Oberschicht häuft unfassbare Reichtümer an, während die Mittelschicht verliert. Die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm ist, wie Thomas Piketty gezeigt hat, kein zufälliger, misslicher Defekt, sondern notwendige Konsequenz des unkontrollierten Kapitalismus.

Sollte man die Idee der Revolution, die das Unterste nach oben kehrt, wieder aus dem Museum holen? Ist es nur Mangel an Fantasie, dass wir uns nicht vorstellen können, dass irgendwann Massen von Empörten das Bundeskanzleramt oder die Downing Street belagern?

1917 kam einiges zusammen

Wenn man die historischen Revolutionen anschaut, spricht alles dagegen. Auch schauerlichste Ungerechtigkeiten bringen keineswegs automatisch revolutionäre Energien hervor. Gefährlich wird es für Regime erst, wenn, wie 1917, einiges zusammenkommt. Der Staat zerfällt, Soldaten desertieren, Banden treiben ungestraft ihr Unwesen und die Geschäfte sind leer. Solange in Berlin, Washington oder Paris die Busse pünktlich fahren und DHL-Boten Smartphones liefern, wird die Kapitalismuskritik weiterhin im Feuilleton stattfinden.

Noch etwas macht den kommenden Aufstand unwahrscheinlich. Welche Machtzitadellen wären denn zu stürmen, welche Weinkeller zu plündern? Im 20. Jahrhundert reichte es, Postamt und Zeitungsviertel zu besetzen und die Regierung zu verhaften. In dem fein­nervigen globalen Kapitalismus lassen sich die Machtzentren nicht mehr so leicht identifizieren.

Occupy Wall Street deutete schon mal zart an, dass die Macht nicht mehr unbedingt in den Regierungsgebäuden zu finden ist. Vielleicht ist die Face­book-­Zentrale ein geeigneteres Ziel als das Weiße Haus. Dahinter verbirgt sich ein fundamentales Problem. Unsere hoch differenzierten, extrem arbeitsteiligen Gesellschaften, die aus Subsystemen mit eigenen Regelwerken bestehen, sind zu komplex und verflochten für Tabula-rasa-Inszenierungen geworden.

Gesucht werden: Reformer mit revolutionärem Elan

Es gibt noch einen fundamentalen Einwand, der einen Aufstand in den westlichen Metropolen wenig wahrscheinlich erscheinen lässt. Wer soll diese Revolte machen? Die Kerntruppe jeder Revolution bilden junge, entschlossene Männer, denen das Ancien Régime keine Perspektive mehr bietet. So war es jedenfalls in der Geschichte. Diese Gruppe wird in den westlichen Zentren, wenn die demografischen Prognosen nicht falsch liegen, auf den Arbeitsmärkten ein stark nachgefragtes Gut sein, das Interesse an Umstürzen daher überschaubar. Alternde Gesellschaften sind für Revolten, die stets von der Idee einer greifbar nahen, lichten Zukunft angetrieben werden, unempfänglich. Wer unter Arthrose oder, schlimmer noch, Altersmelancholie leidet, ist gegen solche Versprechen immun.

Aber wie sieht es an den ausgebeuteten Rändern des globalen Kapitalismus aus? Ein paar Dutzend Superreiche besitzen weltweit mehr als die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung – dreieinhalb Milliarden Menschen. Die Ungleichheit in dem globalen Dorf dürfte heute kaum geringer sein als im feudalen Russland vor 1917. Der Westen lagert, wie der Soziologe Stephan Lessenich gezeigt hat, Ökoschäden und Ausbeutung in den globalen Süden aus. Es gibt dort Failed States, auch zornige junge Leute, die sich überflüssig fühlen.

Obwohl der Leidensdruck im globalen Süden weit größer ist als im Rust Belt der USA oder im Ruhrgebiet, fehlt es zur Revolte an dem Entscheidenden: der Überzeugung, dass radikaler Umsturz hilft. Denn Autarkie, die rigide Abkopplung vom Weltmarkt, die die russische und die chinesische Revolution kennzeichneten, ist trotz der krassen Ungerechtigkeiten des Weltmarkts kein lohnendes Ziel. Der Preis, vom globalen Fortschritt abgekoppelt zu werden, ist im 21. Jahrhundert hoch, Nordkorea das abschreckende Beispiel.

Und nun?

In den westlichen Zentren wäre eine mit revolutionärem Elan ausgestattete, aber strikt auf Reform und Demokratie bedachte Bewegung nötig. Die müsste sowohl global als auch in Metropolen die explodierenden Ungleichheiten bekämpfen. Aber ohne wie 1917 die Freiheit scheinbarer Gleichheit zu opfern.

Eigentlich gab es diese Bewegung schon. Die internationale Sozialdemokratie, deren Spaltung die bolschewistische Machtübernahme besiegelte. Doch derzeit steckt diese Sozialdemokratie in einer tiefen Krise. Ihr Elan scheint verbraucht, für scharfe Verteilungskämpfe und entschlossene Besteuerung der Reichen ist sie zu schläfrig und zahm geworden.

Oder sind Jeremy Corbyn und Bernie Sanders erst der Anfang von etwas Neuem?

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