200 Jahre Bismarck: Blut und Eisen

Seiner Zeit voraus: Der Historiker Max Lehmann legte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Otto von Bismarcks Gewaltpolitik bloß.

Eisen, in diesem Falle ohne Blut. Bild: imago/metodi popow

Bis in die 60er Jahre war das Bild des am 1. April vor 200 Jahren geborenen Reichsgründers Otto von Bismarck in der Historikerzunft wie in der Öffentlichkeit geprägt von Verherrlichung und Heroisierung. Selbst Mitglieder des Widerstandes gegen Hitler wie der Diplomat Ulrich von Hassel und der Hitler-Attentäter Claus Graf Schenk von Stauffenberg sahen in Bismarck nicht eine verhängnisvolle Figur in der deutschen Geschichte, sondern einen Helden, dessen Werk Hitler ruiniert habe.

Dass ein mutiger Historiker bereits 1906 in seinen Vorlesungen mit Bismarcks „Gewalt- und Machtpolitik“ kritisch abrechnete, wurde von der Geschichtsschreibung ignoriert. Der völlig vergessene Historiker hieß Max Lehmann (1845–1929).

Er wurde am 19. 5. 1845 als Sohn eines Geschichtslehrers geboren und studierte zunächst bei den moderat-konservativen Professoren Leopold von Ranke und Gustav Droysen in Berlin, danach in Bonn. Nach der Promotion wurde Lehmann Gymnasiallehrer. Heinrich von Sybel, ein Bismarck-Vertrauter, Hofhistoriker und Direktor des preußischen Staatsarchivs, holte Lehmann ans Staatsarchiv und in die Redaktion der Historischen Zeitschrift.

Als vorbildlich galten Lehmanns Biografie (1886/87) des Generals und Militärreformers Gerhard Johann Scharnhorst (1755–1813) sowie die dreibändige Biografie (1902/05) des preußischen Reformers und Staatsmanns Freiherr vom und zum Stein (1757–1831). 1888 erhielt Lehmann einen Lehrstuhl in Marburg, danach in Leipzig, und von 1893 bis 1921 lehrte er in Göttingen.

Konservative Heldenbeschwörer

Er blieb in der konservativ bis reaktionären Historikerzunft des Kaiserreichs, die am Bismarck-Mythos bastelte und die wilhelminischen „Weltpolitik“- Aspirationen kräftig unterstützte, eine Ausnahmeerscheinung. Einzig der linkssozialdemokratische Historiker und Publizist Franz Mehring erkannte bereits 1912, wie stark sich Lehmann von den konservativen Bismarck-Heldenbeschwörern – den „großpreußischen Romanfabrikanten“ (Mehring) – unterschied und abgrenzte.

Lehmann bekannte sich schon vor 1914 zur Devise, „dass Politik und Historie keinen gefährlicheren Feind haben als den Chauvinismus“. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs radikalisierte sich Lehmanns politische Position. Dem konformistisch-chauvinistischen Professorenaufruf „An die Kulturwelt“ vom Oktober 1914 verweigerte er sich demonstrativ und unterzeichnete dafür drei Jahre später ein Manifest gegen die deutsch-nationalen Annexions- und Kriegsziele. Nach dem Krieg näherte sich Lehmann pazifistischen Organisationen. Am 8. Oktober 1929 starb Lehmann. Seine Tochter Gertrud Lehmann publizierte die seit 1906 gehaltenen Bismarck-Vorlesungen aus dem Nachlass ihres Vaters erst 1948.

Der Bremer Donat Verlag kümmert sich mit seiner Schriftenreihe „Geschichte und Frieden“ um das verschollene und verdrängte demokratische und pazifistische Erbe in der deutschen Geschichte und brachte jetzt die Vorlesungen des vergessenen Historikers Max Lehmann unter dem Titel „Bismarck – eine Charakteristik“ wieder heraus.

Bis über das Jahr 1945 hinaus wurde Lehmann verachtet und vergessen. Noch 1953 zählte der deutsche Historiker Wilhelm Schüssler die Schrift des Außenseiters Lehmann zu den „bloßen Kampf- und Schmähschriften“. Wie ungerechtfertigt dieses von antidemokratischen Ressentiments befeuerte Urteil ist, erkennt man nach einem Blick in das wieder zugängliche Buch.

Dämonisierung und Heroisierung

Das Bild Bismarcks, wie es von der deutschen Geschichtswissenschaft gezeichnet wurde, wechselte natürlich mit den Zeitläuften. Aber vom Kaiserreich über die Novemberrevolution 1918, die Weimarer Republik und die Nazizeit hinaus blieben einige Grundzüge des Bismarck-Mythos bis nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Die wichtigsten Aspekte dieser Darstellungen waren die Dämonisierung und Heroisierung des Reichsgründers. Professorale Schrullen in der Preislage der „Dämonie des Machtwillens“ und der Mystifizierung des „staatsmännischen Willens“ finden sich bereits in der Bismarck-Apologie im Kaiserreich, aber auch noch beim konservativen Historiker Gerhard Ritter (1888–1967) nach dem Zweiten Weltkrieg.

Von solcher Bismarck-Verklärung distanzierte sich Lehmann schon 1906. Lehmann argumentierte zwar noch ganz in der Tradition der politisch-biografisch und diplomatisch orientierten Geschichtsschreibung, in der soziale und wirtschaftliche Aspekte noch keine Rolle spielen. Aber er begnügte sich nicht mit der Beschreibung der angeblich alternativlosen politisch-diplomatischen Entscheidungen und Schachzüge, sondern überprüfte die Motive und Ziele der handelnden Politiker kritisch, das heißt anhand einer sorgfältigen Analyse der Sprache von Diplomaten und Politikern. Er dechiffrierte den machtpolitisch-gewalttätigen Kern dieses Sprachgestus.

Bismarcks Sprache wurde geprägt von seiner Vorliebe zur Jagd und dem schlichten Leben des Landjunkers, der mehr als die Städte selbst nur den aufgeklärt-liberalen Citoyens und die sozialdemokratischen „Reichsfeinde“ hasste. So sprach er mit Verachtung von der Arbeit der Beamten, „deren Gesetzexkremente (…) der natürlichste Dreck der Welt“ seien.

Ferro et igne

Lehmann ließ sich nicht beeindrucken von den euphemistischen Girlanden zu Bismarcks „Realpolitik“. Er sah deren Kern realistisch – als „Gewaltpolitik“, die sich nicht um Recht, Unrecht und Moral kümmerte und nach der Devise verfuhr: „Macht geht vor Recht“ (Lehmann). Schon als Gesandter Preußens beim Bundestag in Frankfurt sah Bismarck in der Mitgliedschaft Preußens im „Deutschen Bund“ ein „Gebrechen, das wir später oder früher – ferro et igne (mit Eisen und Blut, Anm. d. A.) – werden heilen müssen“. Als preußischer Ministerpräsident wiederholte er 1862 den Satz wörtlich und drohte den Abgeordneten des Parlaments, „die großen Fragen der Zeit“ würden „nicht mit Reden und Majoritätsbeschlüssen“ entschieden, „sondern durch Blut und Eisen“.

Auch der Bruch der belgischen Neutralität im Ersten und die Überfälle auf Polen und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg bedienten sich dieser Rechtfertigung. Anders als die Bismarck- Orthodoxie über 1945 hinaus beschönigte Lehmann diese „realpolitische“ Ausdrucksweise nicht als zeitgebundene Redensart, sondern sah sie als ein Zeichen der „abgrundtiefen Kluft“ zwischen Rechtsstaat und Liberalismus auf der einen, „Chauvinismus, Annexionsgier, Eroberungslust“ auf der anderen Seite.

Lehmann war seiner Zeit weit voraus mit der Einsicht, dass die „Einigungspolitik“ nicht auf einem genialen Masterplan des Titanen Bismarck beruhte, sondern auf dem schlichten militärischen Kalkül, mit dem er Österreich in Zusammenarbeit mit Frankreich zuerst aus Deutschland hinausdrängte und dann nacheinander den „Bruderstaat“ (Österreich) und den zeitweiligen „Bündnispartner“ (Frankreich) militärisch besiegte und so die Hegemonie Preußens im Norddeutschen Bund und dann im Deutschen Reich herstellte und durch die Verfassungen absicherte.

Nervöse Großmacht

Anders als den meisten deutschen Historikern bis zum Zweiten Weltkrieg entging Lehmann nicht, dass Bismarcks Verfassungen für den Norddeutschen Bund und für das Deutsche Reich verglichen mit der Paulskirchenverfassung von 1848 einen folgenreichen demokratisch-rechtsstaatlichen Rückschritt markierten: Im vergrößerten Preußen blieb das vordemokratische Dreiklassenwahlrecht bis 1918 in Kraft und die Verfassung enthielt keinen Grundrechtskatalog.

Gegen die „realpolitische“ Lehrmeinung, wonach die militärische Reichseinigung „etwas unbedingt Notwendiges“ gewesen sei, betonte Lehmann in seiner Darstellung, dass es immer „Raum auch für andere Möglichkeiten“ gegeben habe und dass es das zweifelhafte Verdienst Bismarcks war, den preußisch-deutschen Militarismus zum staatsbildenden Faktor Nummer eins gemacht zu haben – durchaus zum Nachteil Deutschlands und Gesamteuropas.

Max Lehmann: „Bismarck - Eine Charakteristik". Donat Verlag, Bremen 2015, 352 Seiten, 16,80 Euro

Das zur Großmacht aufgestiegene Preußen-Deutschland blieb eine „nervöse Großmacht“ (Volker Ullrich) und war als solche maßgeblich, wenn auch nicht allein, verantwortlich dafür, dass Europa in den Ersten Weltkrieg stürzte. Es ist ein Beitrag zur politischen Kultur, dass der Donat Verlag Lehmanns Einspruch gegen Bismarcks Politik wieder zugänglich gemacht hat.

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