50. Deutscher Historikertag: Songcontest und Vertriebenentreffen

Streit gab es beim 50. Historikertag kaum, dafür Rituale. Umso auffälliger, dass auf den Namensschildchen auf Titel verzichtet wurde.

Historisch: Blick auf den Göttinger Marktplatz 1986. Bild: dpa

GÖTTINGEN taz | In einer Stadt wie Göttingen fällt Universitäres insofern kaum auf, weil irgendwie alles in dieser putzig-schönen, fachwerkhaushaften südniedersächsischen Provinzmetropole Akademia ist. Die Stadt, deren Universität mitten im Zentrum angesiedelt, wäre ohne ihre 1732 gegründete Hochschule unbedeutend.

Aber der Konjunktiv kann nicht geltend gemacht werden: München ohne sein Oktoberfest zu denken, Berlin ohne Brandenburger Tor und Hamburg bar seines Hafens ginge ebenso wenig. Insofern konnte der 50. Historikertag in Göttingen kaum auffallen: Wissenschaftliches füllte quasi das ohnehin Vorhandene nur um eine vieltausendköpfige Schar an GeschichtswissenschaftlerInnen auf.

Dass der Historikertag kaum öffentlich Wellen schlug, muss einem anderen Umstand zugerechnet werden: Streit gab es in den beinah zahllosen Sektionen kaum. Nicht wie Ende der Neunziger, als es um die Beschäftigung der historischen Zukunft mit sich selbst, mit ihrer Teilhabe am Nationalsozialismus ging.

Leidenschaften, wütende Gefühle wie solche der Erleichterung köchelten hoch. Aber nun in Göttingen? Viel Frieden. Christopher Clark und Gerd Krumeich in puncto Erster Weltkrieg – schlafwandlerisch beinah ihr freundliches Sprechen miteinander, keine aufwühlende Zuspitzung. Oder die Sektion zum eben gestorbenen Hans-Ulrich Wehler – ehrenwert in jede Richtung.

Menschen aus unterschiedlichen Provinzen

Auffällig war zunächst, das muss dem nichtkundigen Publikum erklärt werden, dass ein Historikertag sich strukturell in nichts unterscheidet von anderen Veranstaltungen, die Menschen aus unterschiedlichen Provinzen und Ländern zusammenbringen. Mit einem Evangelischen Kirchentag, der Buchmesse in Frankfurt in Main, die Berlinale in Berlin, einem Eurovision Song Contest, auch mit einem Vertriebenentreffen. Denn solche sind diese Treffen auch immer: Hinter den Kulissen geht es zunächst nicht um Präparationen oder um Organisatorisches. Vielmehr treffen sich die Akteure, die Impulsgeber, Vortragenden, Interessierten, Journalisten und sonstwie Betroffene, um sich – zu treffen.

Branchenzirkel quasi, die sich einander vergewissern. Inklusive der Spiele um In- wie Exklusion: Wer ist nicht mehr dabei? Wer fehlt? Wer ist neu? Wer beansprucht Aufmerksamkeit, wer will sich etablieren? Expertistisches muss zur Geltung kommen, denn Fachliches ist die Währung, auf die es ankommt.

Es ist das Grundnahrungsmittel, was nicht heißt, das es auf andere Sättigungen nicht ankäme – Informelles also, mithin Freundschaftliches, Erotisches, Kontakthofhaftes. Oder um es mit dem leider viel zu vergessenen Norbert Elias („Über den Prozess der Zivilisation“) zu sagen: Es geht auch immer um Rituelles, Rituale – und also Höfisches, auch in säkularen Zeiten. Das kann – und ist im Fall des Historikertages – etwas ziemlich anregendes sein.

Ob bei einem Laientreffen von Christen, europäischen Musikwettbewerbkennern oder eben solchen, die das Historische zum glühenden Interesse oder – meist beim Historikertag – zum Beruf gemacht haben: Treffen wie diese sind solche aus der heimatlichen Nachbarschaft heraus, es sind Exterritorialitäten, die sich auch als Heimat – je nach Geschmack – erster oder zweiter Ordnung lesen lassen können.

Herberge in Innenstadtlage

Wer in welcher Weise wichtig ist – na klar, Christopher Clark, neuerdings Jörn Leonhard, wie seit langem Ute Frevert, Axel Schildt, Ulrich Herbert, Frank Bösch and you name it … - kann meist nur schwer eingeordnet werden. Nach Alter allein geht es nicht. Wer wo wohnt – in privaten Zimmern weit jenseits der Stadt oder in der besten Herberge in Innenstadtlage: Das wäre ein Indikator. Aber auch, wer mit wem spricht, wer zu welchem Empfang, zu welcher informellen Runde hinzugebeten wird.

Dies hat viel mit Gefühlen zu tun, mit Emotionen, wie der aktuelle Schlager der Historikerzunft lautet: Es könnte ein Feld der Emotionsforschung etwa der Gruppe um Ute Frevert am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin sein, einen Historikertag systemisch als Feld aller Gefühle zu ermessen: Die Wissenschaftler, die diesen neuen Ansatz zu popularisieren suchen, hätten den Quellenfundus direkt vor den eigenen Köpfen.

Was an diesem Historikertag in gewisser Weise auffiel, war nicht allein, dass eine Sektion auch zur Popmusik stattfand – wobei diese unter einer gewissen (heterosexuell bewirkten, also grundsätzlichen) Wahrnehmungsverengung litt, schließlich begann das Populare nicht erst mit Elvis Presley, sondern mindestens international mit Stars wie Billie Holiday, Edith Piaf oder Frank Sinatra, sondern deutscherseits auch mit Marlene Dietrich, Zarah Leander oder jenen, die in den Fünfzigern das Jugendkulturelle zu repräsentieren begannen. Nein, die Distinktionsverschiebung war an einem Detail abzulesen. Dass nämlich schon die Eröffnung, bei der Bundespräsident Joachim Gauck ja eine feine Rede hielt, in eher informellem Rahmen stattfand. Wobei das nicht zutreffend genug formuliert ist.

Denn die Lokhalle beim Bahnhof, aber jenseits der schön restaurierten Innenstadt war die Location – ein Gebäude, das selbst seine Historisierung im praktischen Sinne hinter sich hat: nicht abgerissen, weil es sich nur für Dampfloks eignet, aber umgewidmet zu einer hübschen, aber eben nicht auf antik getrimmten Örtlichkeit. Und: Die Namensschilder, die ein jeder nach der Akkreditierung erhielt, zeigten lediglich die Namen, nicht mehr die Titel der Personen, also Professor, Doktor o.ä. Das muss für diese Wissenschaft, die doch bis in die Achtziger hinein sich bewusst als konservativ und würdig im Sinne von zeitgeistfern verstand, als politikberatend und staatszweckdienlich begriff, doch beinah als egalisierend entziffert werden.

Der nächste Historikertag, der 51. dann seit 1893, wird 2016 in Hamburg stattfinden. Vermutlich wird es wieder ein weniger an direkt öffentlicher Wirkung durch furios ausgetragene Konflikte geprägtes Treffen werden. Es könnte doch sein, dass die Stadt Hamburg zu dem dann nahenden 100. Geburtstag ihrer Universität 1919 – die erste demokratische Neugründung nach dem Kaiserreich – den Historikertag zu einem fünftägigen Geschichtsfest populärster Sorte macht. Mit Veranstaltungen weit über die Hörsäle hinaus.

Kein Wissensstoff ist momentan auf dem Buchmarkt beliebter. Es wäre auch ein Historikertag, bei dem das nichtwissenschaftliche Publikum seine graswurzeligen Interessen zur Geltung brächte. Denn das Misstrauen von Historikern gegen Oral History , auch gegen die volkstümlichen Überlieferungen ist doch längst überwunden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.