70 Jahre Grundgesetz im Bundestag: „Nicht über und nicht unter“

Kinderhymne und eine lächelnde Merkel: In der Bundestagsdebatte zum Grundgesetz ist viel Pathos zu hören – aber auch kluge Gedanken.

Andrea Nahles steht am Rednerpult im Bundestag

Das Grundgesetz sei ein „Bollwerk gegen Faschismus“, sagte SPD-Chefin Nahles im Bundestag Foto: imago/Metodi Popow

BERLIN taz | Andrea Nahles ist es, die auf die Schönheit und Klarheit der Sprache des Grundgesetzes hinweist. Die Mütter und Väter der Verfassung hätten gewollt, dass die Menschen sie verstünden – damit sie ihre Rechte wahrnehmen könnten. Das, so die SPD-Fraktionschefin und studierte Literaturwissenschaftlerin, sei der „tiefere Kern“ dieser Sprache.

Nahles hat Recht. In dem deutschen Grundgesetz, das am 23. Mai 1949, also vor 70 Jahren, in Bonn unterzeichnet und verkündet wurde, stehen viele Sätze, die strahlen wie kleine Sonnen im Weltall. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Artikel 1. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Artikel 3. Oder, kurz darauf: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Es sind Sätze, die heute so wahr und kraftvoll klingen wie damals.

Die Verfassung, hochgelobt, oft zitiert und seit Inkrafttreten über 60 mal geändert, ist das Fundament der deutschen Demokratie. Der Bundestag erwies ihr am Donnerstag die Ehre. In einer eigens angesetzten, zweistündigen Debatte feierten die Parlamentarier das Grundgesetz. Dabei waren die üblichen Versatzstücke zu hören, parteipolitische Einsprengsel, aber auch ein paar kluge Gedanken. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und seine Frau Elke Büdenbender lauschten auf der Besuchertribüne.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus wies darauf hin, dass der Zivilisationsbruch durch den Völkermord an den Juden beim Inkrafttreten des Grundgesetzes nur vier Jahre zurückgelegen habe. Für die Politiker habe es damals nur eine Gewissheit gegeben – „dass nichts, aber auch gar nichts mehr selbstverständlich war – nicht der Respekt vor dem Leben, schon gar nicht die Demokratie“.

Gottesbezug als Absage an menschliche Allmacht

Der Gottesbezug in der Verfassung sei nicht nur ein Bekenntnis zur christlich-abendländischen Tradition, sondern auch eine Absage an menschliche Allmacht. Aber Brinkhaus machte auch ein paar sehr weltliche Ansagen. Er warnte zum Beispiel davor, immer mehr neue Staatsziele in die Verfassung zu schreiben. Die „DNA der Verfassung“ müsse erhalten bleiben. Außerdem forderte er eine dritte Föderalismuskommission, um das Machtgefüge von Bund und Ländern neu zu ordnen.

Als Brinkhaus rief, das Parlament sei der entscheidende Ort der politischen Auseinandersetzung, flüsterte Kanzlerin Angela Merkel kurz mit Olaf Scholz – und lächelte. Brinkhaus, seit einem Dreivierteljahr im Amt, wollte die Unionsfraktion stärker gegenüber der Regierung profilieren. Bisher ist davon allerdings nicht viel zu spüren.

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland brachte kurz darauf das Kunststück fertig, sich als engagierter Verteidiger der Verfassung hinzustellen. „Unfreiheit kommt auf leisen Sohlen“, raunte Gauland mit Verweis auf einen Zeitungstext, der vor der Gefahr politischer Korrektheit warnte. Die Gefahr für die Verfassung gehe von jenen aus, die ihre politischen Ziele in sie hinein interpretierten, um „Vorteile im politischen Meinungskampf“ zu erlangen. Gauland meinte offensichtlich Linke, Grüne und andere AfD-GegnerInnen.

Überhaupt ist die geistige Beweglichkeit der völkisch tickenden AfD in solchen Debatten bewundernswert. Abgeordnete, die in der Vergangenheit geflüchtete Frauen an der grünen Grenze mit Waffengewalt stoppen wollten, applaudieren, wenn vorne gesagt wird, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Solche Widersprüche muss man erstmal aushalten können.

„Bollwerk gegen Faschismus“

Die Sozialdemokratin Nahles legt einen Schwerpunkt auf die sozialen Vorgaben in der Verfassung. Das Sozialstaatsgebot oder die Sozialbindung des Eigentums seien die Grundlage für die soziale Marktwirtschaft. Es reiche nicht, nur auf die Buchstaben des Grundgesetzes zu schauen. Es müssten auch die materiellen Voraussetzungen in der Realität geschaffen werden, sagte Nahles. Und forderte einmal mehr ein Parité-Gesetz, das Parteien verpflichten würde, gleich viele Frauen und Männer aufzustellen.

Nahles sprach als einzige ausführlicher den Osten an. Sie erinnerte daran, dass das Grundgesetz gleichwertige Lebensverhältnisse fordert. Um dann aufzuzählen, wo das nicht der Fall ist: Ostdeutsche seien in Führungsgremien unterrepräsentiert, sie seien weniger durch Tarifverträge geschützt, arbeiteten mehr, hätten weniger Urlaub.

Das Grundgesetz sei ein „Bollwerk gegen Faschismus“, rief Nahles – und spielte auf zu beobachtende Radikalisierungen an. Grinsen in den Reihen der AfD, ein „In der SPD!“ ist zu hören.

FDP-Fraktionschef Christian Lindner deutete das Grundgesetz als „kompromisslose Antwort auf jede Form von Kollektivismus – egal ob völkischer oder sozialistischer Natur.“ Er zitierte – ganz Freiheitsverfechter – Artikel 2, wonach jeder das Recht auf die freie Entfaltung habe, soweit er nicht die Rechte anderer verletzte. Auch Lindner nutzt seine Rede für parteipolitische Botschaften. Wieder mal forderte er die Streichung des Artikel 15, der die Vergesellschaftung erlaubt.

Merkel wiegt den Kopf

Als er mit dem Gedanken spielte, die Amtszeit des Regierungschefs oder der -chefin zu begrenzen, lehnte sich Merkel in ihrem Sitz zurück, wiegte den Kopf hin und her und lachte. Neben ihr grinste Horst Seehofer. Die CSU will KanzlerInnen nur noch maximal zwölf Jahre im Amt belassen. Danach wäre für Merkel schon 2017 Schluss gewesen.

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch wies zu Recht auf Schwachstellen der Verfassung hin. Jene sei nicht immer verbessert worden, sagte er mit Blick auf die 1993 beschlossene Asylrechtsverschärfung. Damals entkernten Union, FDP und SPD faktisch das deutsche Asylrecht. Die leichtfertige FDP-Forderung, Artikel 15 abzuschaffen, habe ihn „entsetzt“, sagte Bartsch. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten gewollt, dass das Gemeinwohl im Zweifel über Kapitalinteressen stehe.

Nahles sprach als einzige ausführlicher den Osten an. Sie erinnerte daran, dass das Grundgesetz gleichwertige Lebensverhältnisse fordert

Mit Blick auf die Vergesellschaftungsdebatten der vergangenen Wochen sagte Bartsch: Es sei „grotesk“, wenn neoliberale Grundsätze nicht mehr hinterfragt werden dürften. Die „hysterischen Schreie“ aus dem konservativ-liberalen Lager zeigten, dass viele zu beschränkt seien, die Gesellschaft jenseits von Turbokapitalismus zu denken.

Als Bartsch fertig ist, bekommt er viel Beifall von SPD und Grünen. Kurz ist der rot-rot-grüne Spirit zu spüren, der jüngst auflebte.

Katrin Göring-Eckardt zitiert in ihrer Rede die Kinderhymne von Bertolt Brecht. „Und nicht über und nicht unter andern Völkern woll'n wir sein.“ Deutschland sei ein Staat in der EU, es gehe in der Verfassung um Zugehörigkeit und Verschiedenheit. Für eine 70-jährige sei die Verfassung ganz schön jung geblieben, sagte Göring-Eckardt. Wie schon Nahles forderte sie, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen – und zudem Klimaschutz hineinzuschreiben. „Diese Verfassung ist der Herzschlag unserer Demokratie.“

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