In guter Verfassung
Am 23. Mai 1949 verkündete der Parlamentarische Rat das Fundament der deutschen Demokratie nach dem Nationalsozialismus: das Grundgesetz.In den 70 Jahren seiner Existenz ist es gut gealtert. Warum es immer noch hervorragende Dienste leistet und wo es sich verändert hat
Von Christian Rath
(Texte) und Oliver Sperl (Illustrationen)
Es liegt eine gespannte Unsicherheit in der Luft. AfD, Trump, Brexit – die westlichen Demokratien werden fragil. Vielleicht deshalb findet zurzeit ein eigentlich langweiliges Jubiläum – 70 Jahre Grundgesetz – erstaunlich viel Aufmerksamkeit. Am Grundgesetz kann man sich festhalten. Verfassungspatriotismus ist plötzlich mehr als ein ziviles Gegenbild zum rechten Nationalismus.
Dabei lässt sich die Wirkung des Grundgesetzes nicht nur mit dem Text allein erklären. Noch wichtiger ist seine Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht und die Bereitschaft der Gesellschaft, die Karlsruher Urteile zu akzeptieren.
Das Grundgesetz besteht, grob gesagt, aus zwei Teilen. Die ersten 19 Artikel enthalten die Grundrechte der Bürger gegen den Staat. Die übrigen Artikel regeln das Binnenleben des Staates: das Verhältnis von Regierung und Parlament, die Rechte der Opposition, das Zusammenspiel von Bund und Ländern. Wie bei einer Verfassung üblich, können diese (auf Dauer angelegten) Regeln nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden.
Dabei sind beim Grundgesetz einige Fehler der Weimarer Verfassung vermieden worden. Es gibt keinen starken Reichspräsidenten, der die Macht an sich ziehen und mit Notverordnungen regieren kann. Dafür ist die Bundesregierung besonders stabil ausgestaltet.
Sie kann nur gestürzt werden, wenn der Bundestag zugleich eine andere Regierung wählt (durch ein konstruktives Misstrauensvotum). Die Grundrechte verpflichten nicht mehr nur die Verwaltung, sondern auch den Gesetzgeber. Auch ein Verfassungsgericht wurde erst mit dem Grundgesetz eingeführt. Eine Verfassung ist an vielen Punkten bewusst vage formuliert, vor allem im Grundrechtsteil. Sie gibt dem Gesetzgeber nur einen Rahmen vor und soll auch neue Entwicklungen erfassen. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert dann aus dem Verfassungstext die jeweils geltenden Maßstäbe.
Das Bundesverfassungsgericht hat seine Aufgabe immer darin gesehen, einen offenen demokratischen Diskurs zu sichern. Es hat das Parlament gegen die Regierung gestärkt, die Opposition gegen die Mehrheitsfraktionen und die außerparlamentarischen Kräfte gegen die etablierte Politik.
Diese Karlsruher Machtkontrolle wird auch weithin akzeptiert. Das Bundesverfassungsgericht ist sogar eines der beliebtesten Staatsorgane, weit vor Regierung und Parlament. Das ist natürlich gut für die Integrationswirkung der Verfassung. Selbst die AfD beruft sich trotz aller Systemopposition gern auf das Grundgesetz und das Verfassungsgericht.
Zugleich liegt in der deutschen Verfassungsfixierung allerdings auch eine Gefahr. In Deutschland war das scheinbar eherne Recht immer schon angesehener als der laute demokratische Streit. Fast mit Schadenfreude wird in der Bevölkerung deshalb quittiert, wenn die Verfassungsrichterinnen und -richter wieder einmal ein Gesetz beanstanden – auch wenn es dabei meist nur um Details geht.
Wer die freiheitliche Verfassung von innen aushöhlen will, wird also nicht unbedingt versuchen, das Grundgesetz abzuschaffen, sondern das Bundesverfassungsgericht unter seine Kontrolle zu bringen.