Auf der Suche nach einer verlorenen Generation

Vor zehn Jahren zog Jani Pietsch nach Schöneiche am östlichen Stadtrand Berlins. Die 59-Jährige spürte verschwundenen jüdischen Nachbarn nach – gegen den Widerstand der Einwohner. Ihre Recherche gibt es jetzt als Buch

„In Schöneiche gab es keine Juden“, bekam Jani Pietsch häufig zu hören. Und: „Hier war alles in Ordnung“ 170 Juden, so fand Pietsch heraus, lebten vor 1945 in Schöneiche, das damals 5.000 Einwohner hatte

VON JAN STERNBERG

Die Schrift zeugt von einer zittrigen Hand, das Blatt ist voller Tintenkleckse. „Ich besaß einen Garten mit Sommerhaus in Schöneiche bei Berlin“, schreibt der 72-jährige Samuel Breslauer in die Vermögenserklärung, die ihm die NS-Bürokratie abverlangte. Das 16-seitige Dokument, ein hektografierte Vordruck, ist eine Demütigung, eine Enteignung – und ein Beispiel sprichwörtlicher deutscher Ordnung. Samuel Breslauer, promovierter Jurist und einstiger Ressortleiter Politik beim angesehenen konservativen Berliner Lokal-Anzeiger, füllt das Dokument am 7. August 1942 aus. Auf der letzten Seite ein letztes Aufbäumen: Er unterschreibt als „Dr. jur. Samuel Breslauer“ – den für männliche Juden eingeführten Zwangsnamen „Israel“ lässt er weg.

Am 17. August werden Samuel Breslauer und seine 79-jährige Frau Bertha ins „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert. Bertha stirbt drei Tage nach der Ankunft, Samuel erliegt am 12. November 1942 den Haftbedingungen in dem mit 60.000 Menschen völlig überfüllten Lager.

Fast 65 Jahre später lenkt Jani Pietsch ihren Ford Kombi im Höhenweg von Schöneiches Ortsteil Hohenberge an den Straßenrand. Sie zeigt aus dem Autofenster auf ein kleines Holzhaus am Hang. Es ist das Haus der Breslauers. Als die Familie in den 20er- und 30er-Jahren ihre Sommer in Hohenberge verbrachte, befanden sich ringsum nur Wald und Wiesen. Hohenberge wurde in Anzeigen als „der Höhenluftkurort des Ostens gepriesen“. Mit der S-Bahn fuhr man in einer halben Stunde von Berlin-Mitte nach Rahnsdorf, lief dann durch den Wald. Heute ist Hohenberge zugebaut mit Einfamilienhäusern, wie ganz Schöneiche.

In der DDR galt das Dorf als Privilegierten-Wohnort. Schöneiche war gefragt wegen der guten Anbindung an die Hauptstadt und der Berliner Telefonvorwahl. In den 90er-Jahren folgte der Speckgürtel-Boom: Die großen Grundstücke wurden geteilt, manchmal mehrfach, junge Familien zogen hierher. Gleichzeitig stellten die alten Eigentümer Ansprüche auf Rückübertragung. Dies war ein Grund für die Abwehrhaltung vieler alteingesessener Bewohner auf die Fragen von Jani Pietsch nach den verschwundenen jüdischen Schöneichern. Die könnten ja die Häuser zurückfordern, aus denen sie einst vertrieben wurden. „Hier gab es keine Juden“, bekam Pietsch häufig zu hören. Und: „Hier war alles in Ordnung.“ Man riet ihr, das Thema lieber fallen zu lassen. „Bei deiner Recherche wird nur herauskommen, dass den Juden die größten Villen gehörten, und dass sie die jetzt wiederhaben wollen.“

Jani Pietsch ist eine Zugezogene. 1995 kam sie aus Westberlin nach Schöneiche. Die 59-jährige Politologin und Historikerin hat in Freiburg und Frankfurt am Main studiert und politisch mitgemischt, sie nennt sich selbst „eine klassische Alt-68erin“.

Anfang der 90er-Jahre wollte sie eigentlich ins benachbarte Woltersdorf ziehen: Sie hatte sich dort in eine große, baufällige Villa verguckt. Die hatte vor 1938 jüdische Eigentümer. Sie wollte das Haus renovieren, die Geschichte der einstigen Bewohner erforschen und auf Tafeln im Garten den Passanten zeigen. Aus der Woltersdorfer Villa wurde nichts. Jani Pietsch zog stattdessen nach Schöneiche. Doch der Plan blieb, an ihrem neuen Wohnort nach Zeugnissen verschwundenen jüdischen Lebens zu suchen.

Bereits ohne ihr Zutun wurde sie bald bekannt im Ort: Ihr damaliger Lebensgefährte und jetziger Ehemann Heinrich Jüttner kandidierte 1996 für den Bürgermeisterposten. Der PDS-Konkurrent plakatierte damals gegen „Ortsfremde“. Es half nichts: Jüttner wurde gewählt und später wiedergewählt. Bis heute ist er parteiloses Gemeindeoberhaupt.

Jani Pietsch war also zuallererst die Frau des Bürgermeisters. Ob ihr das geschadet oder genützt hat, kann sie heute nicht mehr sagen. Mühsam war die Recherche jedenfalls. 170 Juden, so fand sie heraus, lebten vor 1945 in Schöneiche, das damals 5.000 Einwohner hatte. Es waren Angestellte, Ladenbesitzer, Freiberufler. Assimilierte bürgerliche deutsche Juden. Ein großer Teil ging nicht oder nur selten in die Synagoge. Dafür mussten sie nach Berlin fahren. Schöneiche hatte nie eine Synagoge. Wer hier hinzog, wollte seine Ruhe.

Ein Viertel der Schöneicher Juden konnte während der Nazizeit emigrieren – kein einziger von ihnen ist in den Ort zurückgekehrt, der heute 12.000 Einwohner hat. Seit kurzem aber wohnen wieder Juden in Schöneiche: circa 70 Flüchtlinge aus den GUS-Staaten, die sich im Verein „Schtetl“ organisiert und einen Betraum in der ehemaligen Feuerwache eingerichtet haben.

In der ersten Zeit betrieb JaniPietsch ihre Recherchen parallel zu ihrer Arbeit als freiberufliche Lektorin. Später konzentrierte sie sich ganz auf die Suche nach den jüdischen Schöneichern. Sie fuhr ins Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam und ins Berliner Landesarchiv, sie wühlte sich durch die offiziellen Dokumente, die die Maschinerie der Ausgrenzung der Nachbarn und Verwertung ihres Besitzes nach deren Vertreibung, Verschleppung und Ermordung genau belegen. Es war eine Maschinerie, in der alle Räder ineinander griffen, in der viele etwas wussten – und profitierten: der Bürgermeister, das Finanzamt, die Gebrauchtwarenhändlerin, der Gerichtsvollzieher, zahlreiche Nachbarn. Sie berechneten Gebühren, sie kassierten Provisionen oder sie kauften Möbel, Bilder und Teppiche für wenig Geld.

Die Dokumente erzählen Geschichten. Etwa diese: Der Spediteur Erich Scheffler holt die Nähmaschine der 42-jährigen Schöneicherin Edith Neumann ab, nachdem sie am 14. April 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert worden war. Zusammen mit sieben Nähmaschinen deportierter Juden aus Altlandsberg, Oranienburg und Bernau wird auch Edith Neumanns Gerät Richtung Osten gebracht: Die Berliner Spedition Bellack fährt sie nach Lodz. Im „Ghetto Litzmannstadt“ flicken jüdische Zwangsarbeiter damit Wehrmachtsuniformen.

Aus ihren Archivfunden stellt Pietsch 2001 eine Ausstellung zusammen. Sie zeigt sie im Schöneicher Rathaus, in der Kreisverwaltung in Beeskow, im Potsdamer Landtag und anderswo. Plötzlich beginnen sich die alten Schöneicher – einige zumindest – doch noch zu erinnern. Pietsch bekommt Hinweise, Gesprächseinladungen, sogar Tüten mit Dokumenten, die verlegen über den Gartenzaun gereicht werden. Und sie erhält Telefonnummern, weitergegeben mit den vorsichtigen Worten: „Meine Mutter ist sehr alt: Ich weiß nicht, ob sie sich noch an etwas erinnert.“

Selma Franz war Milchhändlerin in Schöneiche. Jani Pietsch ruft sie im Altersheim in Bernburg an. „Komm schnell raus“, habe ihr kleiner Sohn eines Morgens 1942 gerufen, „da werden die Neumanns und Baranskis abgeführt.“ Selma Franz erinnert sich noch an viel mehr. Ob sie die Namen der Schöneicher wissen wolle, die am Novemberpogrom 1938 beteiligt waren, fragt sie Jani Pietsch. Die lehnt ab: Sie schreibe kein Buch über die Täter, sondern über die Opfer.

Denn inzwischen hatte Pietsch den Plan gefasst, ein ganzes Buch zu veröffentlichen: Nach jahrelangen Recherchen und Reisen, unter anderem nach London, zum Witwer von Edith Neumanns Tochter Ruth. Sie entkam im Alter von 13 Jahren 1939 mit einem Kindertransport nach England. Im November 2000 ist sie gestorben. Ihr Witwer Mark Balint gab Jani Pietsch den Briefwechsel zwischen Ruth und ihren in Schöneiche gebliebenen Angehörigen. Ihre Angst und Ausgrenzung versteckt die Familie in den Schreiben an den Teenager zwischen den Zeilen.

Das alles ist in Jani Pietschs Buch dokumentiert. In Schöneiche sind in den ersten Tagen nach Erscheinen bereits einige Dutzend Exemplare verkauft worden, am häufigsten ging der Band im Bioladen über die Theke. Das 280 Seiten starke Werk ist nach beispielhaften Schicksalen geordnet. Es berichtet von von Karrieristen wie dem Polarforscher Alfred Ritscher, der sich bereits 1934 von seiner jüdischen Frau Susanne scheiden ließ. Sie zieht aus der Villa der Ritschers ins benachbarte Friedrichshagen und fährt jahrelang früh morgens mit dem Fahrrad durch den Wald, damit pünktlich um 6.15 Uhr das Frühstück für die Kinder auf dem Tisch steht. Das Buch erzählt von Helfern wie dem Gemeindepolizisten Max Dittrich, der Ritscher das Untertauchen ermöglicht: Er hilft ihren Kindern dabei, einen Selbstmord der Mutter am Müggelsee vorzutäuschen, und fertigt ein glaubhaftes Protokoll darüber an.

Pietsch schreibt von Enteignungen und Bereicherungen – und von den Schwierigkeiten, staatlich geraubtes Eigentum zurückzubekommen. Jahrelang versucht nach 1990 die in Wien lebende Miriam Rothbacher, Erbin der ausgelöschten Familie Breslauer, das Sommerhaus in Hohenberge zurückzuerhalten. Als sie das Grundstück erhält, fordert man von ihr die Erschließungskosten für den Straßenausbau ein. Die Pachterlöse jedoch, die das Deutsche Reich und die DDR von den Nutzern des Grundstücks erhalten haben, sind weg. Miriam Rothbacher muss den Garten, der als Erinnerungsstück für die Familie gedacht war, wieder verkaufen.

Jani Pietsch hat Geschichten aus einem einzigen kleinen Ort gesammelt. Doch sie hat sie so aufgeschrieben, dass sie ein allgemein gültiges Schlaglicht auf den Umgang der Deutschen mit ihren verfolgten Nachbarn werfen. Jetzt wartet die 59-Jährige auf Reaktionen im Ort.

„Hier geht nichts mit dem Holzhammer, wie wir 68er mal dachten“, sagt sie über die Menschen, die seit über zehn Jahren ihre Nachbarn sind. „Das habe ich inzwischen gelernt.“ Die Gemeindevertretung hat gerade mit großer Mehrheit beschlossen, dieses Jahr „Stolpersteine“ für verfolgte Schöneicher vor deren ehemaligen Häusern im Straßenpflaster einzulassen. Initiatorin der Aktion: Jani Pietsch.

Jani Pietsch: „Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin. Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn und ihre schwierige Rückkehr“. Campus 2006, 280 S., 24,90 Euro