Abhängig vom Leihauto: Car to Hell

Wie mir eines Tages beinahe der Entzug von den „Free Floating“-Autos des Carsharing-Anbieters Car2Go gelungen wäre.

Auf durch Hamburg Foto: Jean-Philipp Baeck

Der blaue Kreis auf der Karte pulsiert und verbindet sich in seinem Rhythmus gedanklich mit meinem nervösen Herzschlag. „Komm schon“, denke ich, „komm schon!“ „Hoheluft-West“ steht da in Grau, 350 Meter in meinem Umkreis in Hamburg-Eppendorf werden abgesucht, so habe ich es eingestellt. Ungeduldig starre ich auf den Bildschirm meines Handys. Wenn in den nächsten paar Minuten kein Auto auftaucht, müssen wir Bus fahren. Das Thermometer zeigt 0 Grad. Bus? Bei der Kälte? Nur das nicht.

Es ist Mitte Januar, an diesem Samstagabend findet in der Bar Golem eine „Gala“ zur Feier des fünfjährigen Bestehens statt. Für Google ein Geheimtipp, für Hamburgs linke Intelligenzija ein Szene-Treff. Heinz Strunk soll an dem Abend da sein, aber das ist nicht so wichtig, weil ich ohnehin nicht lange bleiben will. Mein Freund Frederik hingegen schon. Wir hatten uns lange nicht gesehen, wollen noch ein bisschen miteinander quatschen. Dass ich ihn hinfahre, habe ich versprochen – vorschnell, wie sich später herausstellt.

Ich habe kein eigenes Auto, ich fahre Car2Go. Die weiß-blauen Smarts stehen in Hamburg überall rum, 700 seien es, wirbt die Firma. Es ist Carsharing nach dem „Free Floating“-Prinzip. „Free Floating“, übersetzt so viel wie „frei schwebend“, heißt, dass die Autos nicht an festen Stationen bleiben, sondern in der ganzen Stadt verteilt „umherschwimmen“. Das Prinzip ist einfach: Nach der Anmeldung kann man auf dem Smartphone ein Auto in der Nähe suchen, per App mieten, reinsetzen, losfahren. Am Ziel stellt man den Wagen ab – auch auf gebührenpflichtigen Parkplätzen, ohne zu zahlen. Dort wartet der Smart auf den nächsten Nutzer. Und meistens wechseln die sehr schnell.

An diesem Abend aber schwimmt nur wenig, in Eppendorf sind die Autos knapp. Den nächsten freien Wagen markiert ein kleiner blauer Tropfen auf der Karte in einem Bereich so weit weg, dass ich auf dem Handy scrollen muss. Es macht keinen Spaß, wenn wir noch eine Ewigkeit laufen müssen. Deshalb der eingestellte „Radar“. Ich will wissen, wann ein Auto in der Nähe auftaucht. Frederik ruft irgendwas aus der Küche. „Ja, ja“, sage ich und beobachte weiter die Karte auf dem Handy.

Klar könnten wir zu der Party auch den Bus nehmen: fünf Minuten bis zur Haltestelle, mit der 25 in einer Viertelstunde zum Bahnhof Altona, fünf Minuten fürs Umsteigen, 111 in Richtung Shanghaiallee, zehn Minuten bis Ausstieg Fischauktionshalle, noch einmal fünf Minuten Fußweg bis zur Tür. Grummeliger Busfahrer, Sitznachbar mit Mundgeruch, Ruckeln, Wackeln, Stoßen – insgesamt fast eine Dreiviertelstunde.

Günstiger wäre das auf jeden Fall, zwei Mal 2,20 Euro für uns beide im „Nahbereich“. Während ich rechne und Frederik sich schon den Schal umwirft, schlägt mein Radar endlich aus: Irgendjemand hat einen Wagen in der Nähe abgestellt. 150 Meter – super! – ich reserviere.

Die Karte zeigt den Wagen direkt gegenüber an, an der Bundesstraße 5, die von Dänemark bis Polen einmal durch die Republik führt und auf der man, ohne sie zu verlassen, in etwas mehr als fünf Stunden von Hamburg-Eppendorf bis nach Berlin-Mitte fahren könnte, wo sie dann „Straße des 17. Juni“ heißt. Fünf Stunden, Abrechnung im Minutentakt, das wären locker 150 Euro mit dem Car2Go allein in die eine Richtung. Ergibt keinen Sinn, Autobahn wäre schneller, Zug noch schneller, aber man könnte.

Es ist dieser Schein von grenzenloser Flexibilität, der mich in seinen Bann zieht. Seit ich mich Anfang Januar bei Car2Go angemeldet habe, bin ich in Hamburg nicht mehr mit dem öffentlichen Nahverkehr gefahren. Die Verlockung, beim Weg zur Haltestelle nur mal eben kurz auf dem Smartphone nach einem Auto zu suchen, ist groß – und wenn man an einem vorbeikommt noch größer. Immer triumphiert die Bequemlichkeit.

Selbst der Hamburger Verkehrsverbund HVV verweist bei jeder Suche nach einer Bus- oder Bahn-Verbindung mit der HVV-App alternativ auf Car2Go – was daherkommt, als empfehle eine Discount-Kette ihren Kunden ein Delikatess-Geschäft. Mein Beispiel zeigt: Grüner wird es dadurch nicht.

Zunächst finden wir den Wagen nicht. Vor der Gärtnerstraße 2 müsste er parken, wir stolpern in einen Hinterhof, die Fassaden sind bröckelig und an einer Wand rosten alte Fahrräder auf einem Haufen Sperrmüll. Der Hof erinnert an Berlin, aber Smarts stehen hier keine. Eine Ecke weiter entdecken wir an der Hoheluftchaussee das „Motel Hamburg“, das ernsthaft aussieht wie eine Absteige aus einem Hollywood-Road-Movie. Auch hier gibt es Autos, nur nicht das unsrige.

Schließlich, in einem Hinterhof-Ensemble aus Bars und Lounges, vor deren Eingängen sich das Parfüm der Gäste zu einer abstoßenden Wolke vermengt, werden wir fündig: Ganz hinten an einer Mauer keilen zwei andere Autos unseren Wagen ein. Irgendjemand will ihn für sich freihalten, aber nicht bezahlen. Scheiße, was für Arschlöcher! Sollen wir doch Bus fahren? Die Polizei rufen? Ich schalte meinen Radar wieder an.

Autohersteller sehen eine Veränderung in der Mobilität – und damit auch auf den Absatzmärkten. Immer weniger junge Menschen streben nach dem eigenen Auto, mehr Flexibilität, weniger Verantwortung ist die Devise. Seit 2011 setzt BMW deshalb mit Drive Now ebenso auf Carsharing in der „Free Floating“-Variante. Car2Go selbst gehört der Mietwagenfirma Europcar und Daimler: Sie bieten Autos für Singles mit Bindungsängsten.

Bevor es durch digitale Technologie massentauglich wurde, war Carsharing mehr etwas für Idealisten, die gern in Karteikästen wühlten. Heute könnte es als visionär gelten, auf den ersten Blick fast kommunistisch: Ein Auto nicht in Privateigentum, sondern in Benutzung, wenn man es braucht. Werden nicht all jene durch den Erfolg des Carsharings Lügen gestraft, die gegen die marxistische Idee von der Abschaffung des Privateigentums einwandten, dass ihr Auto ihnen heilig sei? Leider nein. Spätestens der Blick auf die Rechnung beweist: Carsharing muss man sich leisten können und das Kapital verdient kräftig – fast 100 Euro in meinem ersten Monat.

Carsharing, zumindest in der Car2Go-Variante ist die Antwort auf Mobilitätsansprüche im Spätkapitalismus und das Produkt für die flexibilisierte, verdichtete Arbeitswelt, in der selbst Mittelgutverdienende wie ich anstelle eines Bustickets lieber ein paar Euro mehr ausgeben, um eine Viertelstunde zu sparen. Zeit ist Geld, Freizeit Gold wert.

Gegenüber Drive Now und Car2Go wirkt der Bremer Carsharing-Anbieter Cambio fast familiär. Klopft man samstags in der Geschäftsstelle ans Fenster, sitzt da eine nette Frau, die einen empfängt, obwohl für Kunden eigentlich geschlossen ist. Bei Car2Go muss man zur „Validierung“ seines Führerscheins in ein Geschäft eines Vertragspartners, etwa des Handyanbieters Mobilcom-Debitel. Die haben mit Carsharing nichts am Hut, aber Führerscheine können sie lesen. Car2Go spart sich ein Netz eigener Geschäftsstellen, das ist schlanker – aber ano­nymer.

Bei aller Wut über das eingeparkte Auto finde ich nur wenige Hundert Meter weiter ein anderes, dass wir mieten könnten. Also los, rein in den Eppendorfer Weg. Obwohl das sonst nicht meine Art ist, entscheide ich mich, die Service-Hotline anzurufen, um mich über den Vornutzer zu beschweren, vielleicht bringt es ja was, denke ich. Außerdem bin ich mir mit Frederik einig, dass es ein schlimmer Schnösel sein muss.

Die Frau aus dem Callcenter klingt jung und ist sehr freundlich: „Da muss jemand Car2Go aber wirklich hassen“, sagt sie noch, bevor das Telefonat abbricht. Mein Handy-Akku ist alle – und wir haben ein Problem: Am anderen Wagen weiß ich nicht, wie ich ihn nun ausleihen soll. „Smartphone only“ steht auf einem Aufkleber hinter der Windschutzscheibe. „Nur mit dem Smartphone“ – na, danke. Auf meiner Stirn fließen die ersten Schweißtropfen herunter.

Ich schließe das Telefon an meinen Laptop an, um es zu laden. Ein Trick, auf den ich gekommen bin, als ich mit leerem Akku in einem Zug saß und mein Ticket auf dem Handy gespeichert war. Es dauert, bis ich es wieder anschalten kann. Als ich auf die Anzeige schaue, ist der Wagen, neben dem wir stehen, bereits vergeben. Aus der Ferne ist uns in der Zwischenzeit jemand zuvorgekommen und hat ihn reserviert. Es wäre ein guter Zeitpunkt, um aufzugeben. Aber mittlerweile ist fast eine halbe Stunde vergangen, seit wir aus dem Haus sind, und es soll nicht alles umsonst gewesen sein. Ich erinnere mich, dass die Karte einen weiteren Wagen in einer Parallelstraße angezeigt hatte.

Meine Freundin sagt, ich bin süchtig nach den Karren. Dass Smarts keine Autos sind, ich zu viel Geld dafür ausgebe und es völlig unnötig sei. Aber ganz sicher: Im Sommer werde ich wieder nur noch Fahrrad fahren. Vielleicht im Frühjahr schon, sobald es wärmer wird. Womöglich ab Februar.

Frederik und ich laufen durch Eimsbüttel. Zum Glück bleibt er gelassen. Die Straßen wirken extrem aufgeräumt, romantische Beleuchtung rückt die sanierten Altbaufassaden ins rechte Licht, Blumenkästen dekorieren Eingänge und Fenster. Es könnte München sein oder Wien, der Wohlstand ist fast aufdringlich, viele Fahrräder, aber noch mehr SUVs. Eines dieser Riesenautos reiht sich an das andere.

Vor allem der Parkdruck in den Städten ist es, der die Behörden mit Carsharing-Anbietern kooperieren lässt. Verkehrsplaner erhoffen sich, die ungenutzten Blechlawinen an den Straßenrändern reduzieren zu können. Sollte sich irgendwann die Akzeptanz für computergesteuerte selbstfahrende Autos erhöhen, wäre Carsharing das Modell der Zukunft. Denn wer hat schon Spaß daran, einen Smart selbst zu lenken? Ich zumindest nicht.

Als wir endlich vor dem nächsten blau-weißen Wagen stehen, hat mein Handy gerade wieder so viel Saft, dass ich wage, es zu benutzen. Frederik und ich quetschen uns auf die beiden Sitze, mit meiner Tasche auf dem Schoß kann er sich kaum noch bewegen. Hinter dem Lenkrad fühlt sich der Smart an wie ein Autoscooter aus Lego. Heizung hoch und los.

45 Minuten haben wir mit der Suche verschwendet, per Bus wären wir schon da. War es das wert? Ich drücke aufs Gaspedal. Ab jetzt tickt die Uhr, ich zahle 29 Cent pro Minute. Auch bei anderen Fahrten merke ich, dass dieser Abrechnungsmodus die Verkehrssicherheit nicht erhöht. Gelb-rote Ampeln sind vor mir nicht sicher, Zebrastreifen kenne ich nicht mehr. Die totale Hetzerei.

Als vor ein paar Jahren in Bremen ein linksradikaler Zusammenschluss namens „Klimaplenum“ sich lokalpolitisch engagierte und in den Bussen und Bahnen der Bremer Straßenbahn AG das Umsonstfahren propagierte, zogen die Aktivisten die Verbindung zur Rastlosigkeit kapitaler Mehrwertproduktion: Ökologisch mobil zu sein, koste Zeit, so das Argument, eine wirkliche Wende sei nur möglich mit radikaler Entschleunigung, ergo: weniger Lohnarbeit. Ich weiß nun, was sie meinten.

Als wir endlich am Fischmarkt vor dem Golem ankommen, hat die Party längst angefangen. Doch als hätten wir nicht schon genug Ärger gehabt, lässt sich die Miete des Wagens nicht beenden. Es darf nicht wahr sein. Auf dem Handy erscheint der Hinweis, dass ich das Auto „im Geschäftsgebiet“ abstellen müsse. Die Große Elbstraße gehört nicht dazu – Hochwasserrisiko-Gebiet. Die Smarts wären hier nicht sicher – zumindest, wenn sich niemand für sie verantwortlich fühlt. Tatsächlich steht nur zwei Wochen später der Fischmarkt unter Wasser, aber wer ahnt das schon.

Eigentlich wollte ich auf ein Getränk mit hineingehen, das fällt jetzt aus. Ich verabschiede mich, fluche noch einmal und rase nach Hause. 19 Euro und 70 Cent wird mich die Fahrt am Ende kosten, fast ein halbes Monatsticket für den HVV. Eine Lehre? Theoretisch: ja.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.