Abweichende Geschlechtsmerkmale: Reden statt schneiden

Expert*innen fordern bei einer Anhörung in Hamburg ein Verbot für Operationen von Kindern mit abweichenden Geschlechtsmerkmalen.

Vanja hält ein Plakat mit dem Schriftzug "dritte Option"

Hat den dritten Eintrag ins Personenregister durchgeklagt: Vanja aus Hannover Foto: dpa

HAMBURG taz | Ein Umdenken hat stattgefunden. Bundesärztekammer und medizinische Leitlinien mahnen schon seit einigen Jahren, Kinder mit abweichenden Geschlechtsmerkmalen nicht mehr zu operieren. Dennoch geht die Zahl der „feminisierenden“ und „maskulinisierenden“ Operationen nicht zurück, wie unlängst eine Studie der Psychologin Ulrike Klöppel ergab. In Hamburg lud nun der Wissenschaftsausschuss vier Expert*innen zu einer Anhörung.

Sie habe in ihrer Zeit als Ärztin oft Patienten vor sich gehabt, die Operationen an variablen Geschlechtsmerkmalen im Kindesalter hinter sich hatten, und denen dies später körperliche Beschwerden und Leid wie Schmerzen, Unfruchtbarkeit und Verlust der Lebensfreude verursachte, berichtete die Urologin Michaela Katzer, die heute am Institut für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg tätig ist.

Und sie habe Patienten gesprochen, die als Kind nicht operiert wurden, und die „nicht unzufrieden waren“. Sie kenne keine Patienten, für die das Nichtoperieren einen dauernden, unwiederbringlichen Schaden bewirkte. „Die, die operiert waren, hatten eine höhere Unzufriedenheit im Alltag“, so die Medizinerin. Darum sei es sinnvoll, Operationen in ein Alter zu verschieben, in dem die jungen Menschen selber entscheiden können.

Als Beispiel einer umstrittenen Operation nannte Katzer die Korrektur einer „Hypospadie“. So nennt man eine verkürzte Harnröhre, die bei Jungen nicht an der Spitze, sondern an der Unterseite des Penis ihre Öffnung hat. Diese OP werde bei Kindern durchgeführt, weil Ärzte früher dachten, es sei unabdingbar für das männliche Selbstbewusstsein, früh und oft im Stehen Harn lassen zu können. Doch diese OP führe zu großen Komplikationsraten, weil sie beim Kind Narben hinterlässt, die nicht mitwachsen können. Werde deshalb zum Beispiel der Harnstrahl eingeengt, entstehe Druck auf der Blase, was zu Nierenschädigung und Entzündungen führen könne.

Der Begriff Intersexualität bezeichnet biologische Besonderheiten bei der Geschlechterdifferenzierung.

Der Bundesverband Intersexuelle Menschen e. V. erklärt auf seiner Homepage, es handele sich um Menschen, „deren Erscheinungsbild von Geburt an hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion oder Körperform nicht nur weiblich oder männlich ist, sondern eine Mischung darstellt“.

Statistiken weisen darauf hin, dass je nach Definition zwischen 0,1 und knapp 2 Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich sind.

Anlass der Anhörung war eine Große Anfrage der Linken-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft zum Thema. Dort zitierte der Hamburger Senat die aktuelle Stellungnahme der Bundesärztekammer, wonach an Neugeborenen und Kleinkindern „grundsätzlich keine Operationen zur Geschlechtsangleichung durchgeführt werden sollten“. Zugleich verwies aber die Uniklinik Eppendorf (UKE) darauf, dass funktionell wirksame Änderungen der Geschlechtsorgane häufig dringliche Operationen erforderten, „ohne die ein normales Gedeihen und Leben nicht möglich wären“.

Allerdings weist die Statistik darauf hin, dass allein im Jahr 2015 bei 64 Kindern von der Geburt bis zum Alter neun Jahren besagte Hypospadie korrigiert und bei sechs Kindern die Rekonstruktion eines Penis vorgenommen wurde. Bei weiteren von der Linken abgefragten Operationstypen wurden wegen kleiner Fallzahlen aus Datenschutzgründen nur Pünktchen gesetzt. Zur sehr umstrittenen Klitoris-Verkleinerung kam es bei Kindern nicht.

Früher sei ein intergeschlechtliches Kind als Notfall bezeichnet worden, heute würden medizinische Gründe für die Operation vorgebracht, erklärte die Rechtswissenschaftlerin Kontanze Plett von der Universität Bremen. „Wir müssen von der medizinischen Sichtweise weg“, sagte sie. „Ein Mensch hat das Recht als Intersex aufzuwachsen.“

Die Mutter Ursula Rosen berichtete von ihren Erfahrungen in den 1990er Jahren. „Als mein Kind geboren wurde, und es hieß intergeschlechtlich, beschworen mich die Ärzte: Sie dürfen niemandem jemals etwas sagen“, erinnert sie. Eine andere Ärztin habe sie später massiv unter Druck gesetzt, ihr Kind zu operieren.

Heute ist das Kind erwachsen und Rosen aktiv in der Elternselbsthilfegruppe des Vereins Intersexuelle Menschen. Eltern bieten dort im Tandem mit Intersexuellen seit Jahren bundesweit eine Peer-to-Peer-Beratung an. Sie fahren in Kliniken und sprechen mit Eltern, die die Diagnose bekommen, über die Sorgen, etwa, dass ihr Kind kein zufriedenes Leben führen und keinen Partner finden könnte.

„Wir sind von Kliniken im Hamburger Raum noch nie angefordert worden“, sagte Rosen. Dabei steht in der ärztlichen Leitlinie, dass eine solche Peer-Beratung hinzuzuziehen ist. Ein Arzt habe ihr gesagt: „Wir wollen nicht operieren. Aber wenn Eltern nicht damit umgehen können, operieren wir doch.“ Deshalb wünsche sie sich eine Beratungspflicht für Eltern vor einer Operation.

Interdisziplinärer Austausch

„Der Beratungsbedarf für Eltern ist eklatant“, sagte auch Psychologin Katinka Schweizer vom Institut für Sexualforschung und Forensik am UKE. „Es gibt weniger Operationen, wenn mehr gesprochen wird“.

Nötig sei auch ein interdisziplinärer Austausch der Fachleute, das Thema sei auch wichtig für Pädagogik und Theologie. „Hamburg ist eine Metropole und hat Ausstrahlung“, mahnte Schweizer. Deshalb sei ein Modellprojekt nötig, eine „wissenschaftliche Aufarbeitung des Umgangs mit Intersexualität in den letzten Jahrzehnten“. Urologin Katzer regte einen Entschädigungsfonds an.

Alle vier Expert*innen drängten auf ein gesetzliches Verbot von geschlechtsangleichenden medizinischen Eingriffen an Kindern, sofern diese nicht zur Abwendung von Lebensgefahr notwendig sind. Das würde Ärzte und Eltern entlasten. Zumindest eine „rechtliche Klärung“ hat die SPD schon mal in den Koalitionsvertrag der Großen Koalition in Berlin hineinverhandelt.

Die Linke fordert ein gesetzliches Verbot

Ohnehin geändert werden muss das „Personenstandsgesetz“. Denn das Bundesverfassungsgericht hat im Herbst entschieden, dass der Eintrag eines dritten Geschlechts möglich sein muss. Doch nach einem Entwurf des Innenministeriums soll dafür nun ein ärztliches Gutachten nötig sein. Auch soll der Eintrag schlicht „weiteres“ heißen. Für Rosen eine schlechte Lösung. „Ich wünsche mir eine positive Benennung wie inter, divers oder interdivers“, sagt sie. Auch wäre es besser, den Geschlechtseintrag für alle Kinder offenzulassen.

Der Hamburger Wissenschaftsausschuss wird nach den Ferien erneut zum Thema tagen und den Senat anhören. Die Linke fordert, dass das Rot-Grün regierte Hamburg eine Bundesratsinitiative startet, um politisch Druck zu machen. „Wir brauchen ein gesetzliches Verbot von Genitaloperationen an Kindern mit Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale, wenn keine medizinisch zwingenden Gründe vorliegen“, sagt deren Gesundheitspolitiker Deniz Celik. Alles andere sei „ein Verstoß gegen die körperliche Unversehrtheit und damit gegen Menschenrechte“.

„Die Anhörung hat verdeutlicht, dass Intersexualität im klinischen Umfeld noch viel zu oft mit Krankheit in Verbindung gebracht wird“, ergänzt seine Parteikollegin Cansu Özdemir. Deshalb sei es wichtig, die außerklinische Peer-Beratung zu stärken, und zu prüfen, ob die Beratung in Hamburg Pflicht werden könnte.

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