Ästhetik und Lohnarbeit: Kapitalistisches Elend

Eine Retrospektive des spanischen Künstlers Santiago Sierra zeichnet in den Deichtorhallen Hamburg dessen Weg zu radikalen Konzepten nach.

Weißgold und Palladium: Kette. Bild: Rafael Vargas, Barcelona/Deichtorhallen Hamburg

Am Eingang der ehemaligen Phoenix-Gummiwerke im Hamburger Stadtteil Harburg, heute Standort der Sammlung Falckenberg mit zeitgenössischer Kunst, hängt ein sonderbares Hinweisschild. Es enthält eine Auflistung unerwünschter Personengruppen, darunter Alkoholiker, Junkies, Obdachlose, Bettler, aber auch Alte, Ungebildete und Frauen mit Kindern. Geht es bei Kunstausstellungen – wie jetzt bei der Retrospektive des spanischen Künstlers Santiago Sierra – inzwischen so zu?! Nicht wirklich, denn das Schild ist neben Video, Fotografie und Skulptur Teil der Ausstellung.

Das Schild verstört, obwohl es Selbstverständliches benennt. Zwar steht kein Aufpasser vor den Museumstoren, der die Besucher sortiert. Doch Museen sind oft genug, ob sie es wollen oder nicht, soziale Segregationsanstalten. Wenn vielleicht nicht immer Bildung, braucht es aber wenigstens das Privileg freier Zeit für den Gang ins Museum.

Santiago Sierra hat mit seinen Arbeiten in den vergangenen Jahren oft für Diskussionen gesorgt. So ließ er sechs nebeneinanderstehenden jungen Kubanern gegen Bezahlung eine durchgehende Linie auf den Rücken tätowieren. Andere ließ er gegen Bezahlung eine umkippende Wand stützen oder stundenlang unter einem Pappkarton sitzen und masturbieren.

Bis 12. Januar 2014, Sammlung Falckenberg, Deichtorhallen Hamburg-Harburg, Katalog (Snoeck Verlag), 39,80 Eur.

Im nordrhein-westfälischen Stommeln verwandelte er die ehemalige Synagoge durch die Zufuhr von Autoabgasen in eine Gaskammer. Der empörte Protest zwang Sierra, die Aktion nach wenigen Tagen vorzeitig zu beenden.

Es geht nicht um Wünsche, es geht um die Realität

In Hamburg zeigt sich Sierra während der Eröffnung irritiert über den Zuspruch der Gäste. Er ist Anfeindungen gewohnt. Interviews vermeidet er. „In meinen Arbeiten sind nicht meine Wünsche, sondern die Realität zu sehen“, sagt Sierra. In seinem Werk gehe es nicht um ihn.

Die Empörung über das Werk ist erklärungsbedürftig. Sierras Berliner Galerist Alexander Koch sagt: „Menschen arbeiten für weniger als den Mindestlohn, und nun sitzen sie dafür eben in Kartons.“ Sierra zufolge sollte Kunst nicht als letzte moralische Instanz verstanden werden. „Was in der Welt der Kunst erlaubt ist, deckt sich natürlich mit dem, was im Kapitalismus erlaubt ist. Wir teilen dieselbe Wirklichkeit“, sagte Sierra einmal.

Eine reine Verdoppelung des kapitalistischen Elends ist Sierras Kunst jedoch nicht. Hängt die Aufregung über Sierras Aktionen damit zusammen, dass hier die Absurdität und Brutalität von Lohnarbeit sichtbar werden? Die Arbeit in seinen Projekten erzeugt keinerlei Mehrwert. Sie ist gesellschaftlich vermittelt und steht so für Tod und Elend, für Entfremdung, Zwang und verlorene Lebenszeit. Sierras Kritik ist fundamental. Es gibt nichts zu verbessern. Entsprechend fordert Sierra keine Lohnerhöhung und stellt auch keine alternativen Formen der Arbeitsorganisation vor.

Der rote Faden durch die Hamburger Ausstellung

Das Thema Arbeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Hamburger Ausstellung. Zu sehen sind dort auch frühere, weniger spektakuläre Arbeiten. Deutlich wird hier Sierras Auseinandersetzung mit Minimal- und Concept-Art sowie Bezüge zu Joseph Beuys, Richard Serra und Franz Erhard Walther, bei dem er Anfang der 90er Jahre studierte.

Aus der Zeit seines Kunststudiums in Hamburg stammt die Fotoserie „Walks“. Entstanden ist sie bei einem Gang durch den Hamburger Hafen. Die kleinen quadratischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Baumaterialien, Bagger, Holzpaletten. Die formale Klarheit erinnert an die Wassertürme von Bernd und Hilla Becher. Allerdings wechseln die Ansichten auf die Dinge innerhalb der Reihe. Der Blick wird somit subjektiv, und auch die Dinge verändern sich, werden historisch.

Aus dieser Zeit stammen auch Sierras Aufnahmen von Bergen und Hügeln. Sie erinnern an die Fotoarbeiten der Land-Art, an Künstler, die ihre Umgebung, ihr hübsches Kalifornien etwa, durchdeklinierten. Was hier an Dünen und Felsen erinnert, entstammt der Hamburger Industrie. Es sind Baumaterialien und -abfälle wie Schotter, Kies und Teerplatten. Zur natürlichen Umgebung gewordene Resultate von Arbeit als gesellschaftlichem Verhältnis.

Friedhof verausgabter Arbeitskraft

Konkreter wird Sierra 2007, als er die Fäkalien unterbezahlter Arbeiter in Indien drei Jahre lang in Wannen trocknen lässt und mit Härtemittel versieht. Es entstehen so schwere braune Klötze, die er wie Leichen in Holzkisten packt. In der Sammlung Falckenberg sieht man sie wie Grabsteine in Reihen stehen. Ein Friedhof verausgabter Arbeitskraft.

Auch Sierras neuere, zumeist sprachbasierte Arbeiten sind in Hamburg vertreten. Darunter die Videoarbeit „KAPITALISM“. Auf zehn Bildschirmen arbeiten sich verschiedene Personen an den Buchstaben des Worts „KAPITALISM“ ab. Sie zerlegen den Begriff. Die Lettern sind aus unterschiedlichen Materialien, Holz, Beton, Stahl. Jemand zerhackt das Hölzerne „K“. Ein Baukran reißt das „I“ ein. Ein Weg, den Kapitalismus zu überwinden? Wieder haben wir es mit der Form von Lohnarbeit zu tun. Ein Zirkelschluss, kein Tigersprung. Der Ausbruch findet nicht statt.

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