Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“: Keine Mauer ist unantastbar

Kunst- und PolitaktivistInnen wollten am 9. November ein Loch in die Außengrenze der EU schneiden. Hinter jeder Landesgrenze erwartete sie die Polizei.

Philipp Ruch, der künstlerische Leiter des Zentrums für politische Schönheit, übergibt der Polizei einen Bolzenschneider. Bild: imago/Christian Mang

Teil zwei der Aktion „Erster Europäischer Mauerfall“ beginnt auf dem roten Teppich vor dem Berliner Gorki Theater. Ausgerollt für rund 100 KunstaktivistInnen führt er zu zwei Reisebussen. Ihr Ziel ist die europäische Außengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Symbolisch soll am 9. November mithilfe von Bolzenschneidern die meterhohe, aus Nato-Stacheldraht gebaute „Eindämmungsanlage“ gegen syrische Flüchtende aufgeschnitten werden. Keine Mauer ist unantastbar, das ist die Lehre aus der deutschen Einheit, zu deren Feier sich auch das Establishment am letzten Wochenende in Berlin versammelt hat.

Wie hatte es Angela Merkel in ihrer Rede formuliert? „Am 7. Oktober 1989 begingen die SED-Größen noch mit dem üblichen Pomp den 40. Geburtstag der DDR. Zugleich ließen sie Jagd auf friedliche Demonstranten machen. Trotzdem versammelten sich nur zwei Tage später Zehntausende in Leipzig zur Montagsdemonstration. (…) Ihrem Mut haben wir zu verdanken, dass sich zu guter Letzt die Schlagbäume an der innerdeutschen Grenze öffneten.“

Nun stehen denjenigen, deren ziviler Ungehorsam sich gegen den Pomp der BRD und die aktuellen Mauern der EU richtet, 30 Stunden Busfahrt bevor. Sie, die zum Großteil noch studieren, richten sich in den voll besetzten Bussen ein.

Die einen kommen eher aus der Kulturecke. Sie interessiert das Performative der Aktion, also die Busfahrt, die kommende Inszenierung am Grenzzaun, die Reaktion der Medien, kurzum der Diskurs – ihn wollen sie öffnen. Das Aufschneiden des Mauerzauns dagegen ist vor allem die Passion der PolitaktivistInnen. Allen gemeinsam sind die gute Laune und die Ungewissheit, was auf sie zukommen wird. Alle haben sie Demo-Erfahrung, viele waren bei Anti-Castor-Protesten.

Eigentlich sollten während der Fahrt zur Zerstreuung revolutionäre Filme gezeigt werden. Doch der DVD-Player ist kaputt, und die Toilette ist ein Problem. Aber keiner mault. Auch Strom gibt es nicht. Für die meisten der twitterfreudigen Reisenden ist das die größte Herausforderung. An der ersten Raststätte in Deutschland wird der Biervorrat aufgestockt. Sie ist so trostlos wie alle weiteren, die die Gruppe auf ihrer 42 Stunden andauernden Fahrt ansteuern wird.

Die Gruppe macht derweil Gymnastik

Am Morgen erreichen die Busse die tschechische Grenze. Aussteigen, Pässe zeigen, Rucksäcke öffnen. Alles wird durchsucht. Es dauert Stunden; die Gruppe macht derweil Gymnastik. Dann wird zum Erstaunen der meisten eine Tasche mit Bolzenschneidern in einem der Busse gefunden – und nur inventarisiert. Das Werkzeug reist weiter mit. Doch die Stimmung trübt sich ein: Wer kann so blöd sein, sie einschmuggeln zu wollen?

Ab jetzt bekommt der Bus eine Polizeieskorte, zuerst eine serbische, dann eine bulgarische. Das Szenario wiederholt sich an jeder Grenze: Aussteigen, Pässe, Rücksäcke, mit Grenzern verhandeln, stundenlang warten. Die vier Busfahrer sind geduldig. Für sie ist die Strapaze am größten.

Im Bus drehen sich die Diskussionen immer wieder um die Rechtmäßigkeit eines illegalen Protestes: Wie weit würdest du gehen? Welches Risiko gehen wir ein, was sind mögliche Strafen?

Bis zu fünf Jahre oder 150 Euro Geldstrafe

Bei der Antwort hilft schließlich das bulgarische Innenministerium weiter. Der frisch gewählte Innenminister Veselin Vutschkow hatte in einem Fernsehinterview erklärt, dass er die Grenze zu schützen wisse und bei einem Übertritt zurücktreten werde. Daraufhin erwartete ein freundlicher Mitarbeiter des Ministeriums die Gruppe an der bulgarischen Grenze. Auf Deutsch erläuterte er die Rechtslage: Illegaler Grenzübertritt wird mit bis zu fünf Jahren oder 150 Euro Geldstrafe geahndet. Die Geldsumme löste Heiterkeit aus. „Gebongt. Aber wir kriegen Rabatt, oder? Immerhin sind wir 100 Leute.“

Damit hatte der Mann im zerknitterten grauen Anzug nicht gerechnet und verhaspelte sich ein wenig. Dann wies er darauf hin, dass der bulgarische Staat bereit sei, die Gruppe vor rechten Angriffen zu schützen – solange sie sich an die Gesetze hielte. Die Drohung war deutlich. Denn Nationalisten hatten angekündigt, „ihr“ Bulgarien gegen die deutschen Eindringlinge zu verteidigen.

Auf diese Haltung – „Wir lassen uns von euch nicht unsere Grenze nehmen, denn das ist unsere Chance, uns als Europäer zu beweisen“ – treffen die AktivistInnen am nächsten Tag erneut. Als sie endlich müde, aber entschlossen in der kleinen Stadt Yambol unweit der bulgarisch-türkischen Grenze angekommen sind, frühstücken, duschen und sich auf den Weg zur Grenze machen, kommt es dort zu Diskussionen mit Grenzpolizisten. Der Leiter verhandelt sogar mit den Deutschen, die nun offen Bolzenschneider in der Hand tragen – und in Begleitung von zwei bulgarischen Rechtsanwälten und einer Dolmetscherin versuchen, in Sichtweite der Grenze zu gelangen: „Wir wollen unsere Grenze sehen!“

Es bleibt beim Skandieren

Auch bei einigen Beamten flackern kurz die Augen, als die Aktivisten erklären: „Vor 25 Jahren standet ihr auf der anderen Seite der Mauer.“ Ein Hubschrauber kreist über der Gruppe – und es ist klar: Versuchten die Aktivisten, das von Hunden begleitete Polizeispalier zu durchbrechen, begänne sofort eine heftige Prügelei. So bleibt es beim Skandieren. Enttäuscht tritt die Gruppe den Rückweg an.

So clever das Zentrum für politische Schönheit die öffentliche Debatte zu steuern weiß, auf das Militäraufgebot an der Grenze war es nicht vorbereitet. Der Initiator Philipp Ruch gibt offen zu: „Ich hätte gedacht, dass sie uns wenigstens auf Sichtweite an die Grenze lassen. Wir haben das ja nicht umsonst den ’Ersten europäischen Mauerfall‘ genannt.“

Zur Erholung brechen die Reisebusse am Abend gen Griechenland auf. Die Busfahrer müssen dringend schlafen – und auch die Gruppe soll sich ein bisschen am Strand entspannen. Nicht alle sind damit einverstanden: „Wir haben uns keinen Tag am Meer verdient. Die Aktion ist gescheitert“, meinen einige. Trotzdem geht es weiter nach Süden.

Und auch dort ist der Empfang nicht entspannt. Die Griechen sind längst auf die Busse vorbereitet und erwarten sie an der Grenze mit einer Hundertschaft von Riot-Polizisten. Kaum öffnet sich die Bustür, stehen bewaffnete und schwarz vermummte Polizisten davor. Zwei Stunden dauert es, bis die Weiterfahrt – wieder mit Eskorte – gewährt wird.

Nach dem Tag am Meer beginnt für die Gruppe die Rückfahrt: wieder 40 Stunden im Bus. Derweil ermittelt Berlins Innensenator Frank Henkel gegen Philipp Ruch und offenbar auch gegen die Intendantin des Gorki Theaters wegen „Komplizenschaft“. Shermin Langhoff wird unterstellt, die Entwendung der Mauerkreuze an den EU-Außengrenzen unterstützt zu haben. Und das war Teil eins.

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