Arbeitsloser Redakteur gründet Zeitung: Ein neues Gedächtnis

Die Deister-Leine-Zeitung wurde eingestellt. Wolf Kasse arbeitete dort 32 Jahren als Lokalredakteur. Jetzt bringt er in seiner Heimatstadt ein eigenes Blatt heraus.

Redakteur Wolf Kasse kurz vor seiner Entlassung. Bild: dpa

BASINGHAUSEN taz | Wolf Kasse beugt sich über die Zeitung. Mit dem Finger zählt er die Gesichter auf dem Titelfoto ab, „Dreiundzwanzig“, murmelt er. 23 Mitarbeiter hatte die Deister-Leine-Zeitung (DLZ), einst das Lokalblatt im niedersächsischen Barsinghausen. Es ist die letzte Ausgabe, auf die Wolf Kasse blickt. Im März 2012 wurde die DLZ nach mehr als 125 Jahren dichtgemacht. Mit dem Gruppenfoto auf dem Titel verabschiedeten sich die Mitarbeiter von ihren Lesern.

Auch Kasse ist darauf zu sehen. 32 Jahre war er Redakteur bei der DLZ. „Das Gedächtnis der Stadt“ sei die Zeitung gewesen. Nach der Schule hat er dort angefangen, war erst freier Mitarbeiter, dann Volontär, zwischenzeitlich Redaktionsleiter.

32 Jahre, in denen er das 37.000-Einwohner-Städtchen mit Fachwerk- und Backsteinhäusern in den Hügeln des Deisters bis in den letzten Winkel kennengelernt hat.

32 Jahre, die Kasse nicht aufgeben will. „Man übernimmt mit diesem Job Verantwortung für die Gesellschaft, gerade in einem Mikrokosmos wie Barsinghausen“, sagt er. Seit Ende November schreibt der 54-Jährige wieder, im Deister Journal, das er nach dem Aus der DLZ aufgezogen hat.

Die zweite Ausgabe hat er gerade herausgebracht. Ab Januar erscheint das Journal als Wochenzeitung immer freitags. Kostenlos, finanziert über Anzeigen, wie bei Gratis-Wochenblättern üblich. Auf Kasses Risiko, das Deister Journal hat keinen großen Verlag oder Investor im Rücken.

Schräg gegenüber von Kasses altem Arbeitsplatz ist der neue Redaktionssitz. An dem schmucken Backsteingebäude in der Bahnhofstraße, in dem die DLZ von 1896 an residierte, prangen jetzt die Schilder einer Versicherung. Auf der anderen Straßenseite hat Kasse ein alteingesessenes Fotogeschäft als zweites Standbein übernommen.

Noch ist es ein klassischer Fotoladen mit Verkaufstresen und kleinem Fotostudio. Bald soll das Deister-Journal-Logo über dem Schaufenster hängen und ein Redaktionsbüro eingerichtet werden.

„Ein wagemutiges Unterfangen“, sagt Kasse selbst. In den 15 Seiten steckt sein „komplettes Geld“, auch seine Abfindung. Als der Niemeyer-Verlag aus Hameln die DLZ 2012 aus wirtschaftlichen Gründen einstellte, versprach man den Festangestellten zwar neue Arbeitsplätze, für Kasse waren die Angebote des Verlags, der in der Region mehrere Lokalzeitungen herausbringt, aber „jenseits von Gut und Böse“.

Nach 30 Jahren bei der DLZ...

Nach über 30 Jahren bei der DLZ hätte er ohne Tariflohn, befristet und mit Probezeit zu anderen Niemeyer-Blättern wechseln sollen. „Ich dachte, ich soll wieder als Volontär anfangen“, sagt er.

Stattdessen einigte man sich auf eine Abfindung – und Kasse wagt sich jetzt mit seiner eigenen Zeitung in einen „harten Verdrängungswettbewerb“, wie er es formuliert. Gleich zwei Anzeigenzeitungen bringt die Hannoveraner Mediengruppe Madsack in Barsinghausen heraus.

Auch bei den Tageszeitungen ist der Zeitungsriese aus Hannover inzwischen konkurrenzlos. Seit dem Ende der DLZ erscheinen in Barsinghausen nur noch Madsacks Calenberger Nachrichten. Der Niemeyer-Verlag, der mit der Einstellung der DLZ den Markt räumte, ist wiederum eng mit dem Konzern verbandelt. Madsack liefert für die Niemeyer-Lokalblätter die Mantelteile mit Überregionalem.

Kasse setzt auf Lokales

Auf Überregionales verzichtet Kasse im Deister Journal komplett. Bei ihm geht es um den Weihnachtsmarkt in der Fußgängerzone, das 50. Jubiläum des Kegelvereins, Interviews mit den Bürgermeistern von Barsinghausen und umliegenden Städtchen. Strikt Lokales – mit einem ausführlichen Sportteil.

Den macht Erk Bratke, Mittfünfziger und wie Kasse Lokaljournalist durch und durch. „Echte Barsinghäuser Jungs“, die niemals wegwollten, wie Bratke beteuert. Beide haben in den 80ern bei der Deister-Leine-Zeitung angefangen. Beide haben erlebt, wie dort immer mehr Berufsgruppen wegfielen, die Schriftsetzer, die Fotolaboranten. Bis es schließlich auch sie traf: die Schreiberlinge.

Für Sport-Mann Bratke gab es nach dem DLZ-Aus allerdings keine Angebote. Im Deister Journal will er jetzt „große Berichte über den kleinen Sport und die Menschen dahinter“ bringen und nicht freitags die Fußballergebnisse vom vorherigen Wochenende wiedergeben. 12.000 Barsinghäuser seien in Sportvereinen organisiert, rechnet Bratke vor, eine beachtliche Zielgruppe.

Produziert wird in der Cloud

Noch arbeiten Kasse und er „ambulant“. Die Daten fürs Deister Journal liegen in einer Cloud, bearbeiten können sie sie quasi von überall. Im neuen Büro in Kasses Fotoladen soll es bald aber richtige Redaktionssitzungen geben. Anlaufstelle für die Leser ist das Geschäft schon jetzt, wo Kasse werktags hinterm Tresen steht, Passbilder und Familienfotos macht. Die Barsinghäuser kommen auch ohne Logo an der Tür im Viertelstundentakt rein, um ein Journal abzuholen und Kasse ein „Bleiben Se dran“ mitzugeben.

Das plant Kasse fest. Die ersten Ausgaben seien gut gelaufen, sagt er. Daueranzeigenkunden hatte er schon vor dem ersten Erscheinen: Nicht die großen Supermarktketten werben bei ihm, sondern lokale Vereine, die Stadtsparkasse oder die örtliche Diakonie. Mehrfach musste Kasse an Läden, Kioske und Tankstellen nachliefern, wo das Journal zum Mitnehmen ausliegt. Im Internet gab es binnen einer Stunde 800 Downloads.

„Ich muss mir nichts mehr beweisen und auch nicht Millionär werden“, sagt Kasse. „Ich will nur davon leben und dem ein oder anderen einen Job geben können.“

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