Arbeitsmigranten aus Ägypten: Klein-Italien im Nildelta

Junge Männer aus Mit Gabr gehen nach Europa, um dort auf Baustellen zu arbeiten. Bei ihrer Rückkehr winkt eine gesicherte Existenz.

Arbeiter einer Töpferei in Ägypten

Harte Arbeit, wenig Lohn: Für junge Ägypter reicht das Geld oft nur, um nicht zu sterben Foto: reuters

MIT GABR taz | Warum das Dorf Mit Gabr im östlichen Nildelta im Volksmund „Klein-Italien“ genannt wird, erschließt sich nicht sofort. Alles wirkt ziemlich ägyptisch. Die Kinder spielen auf den staubigen engen Gassen, durch die sich wenige Autos und Eselskarren zwängen. In den Feldern rund um den Ort wird die Reisernte eingefahren. Dazu spannt einer der Bauern den Keilriemen an seinem klapperigen Traktor ein, um am anderen Ende des Riemens eine ebenso altertümliche, laut dröhnende Dreschmaschine in Bewegung zu bringen.

Der Rest ist Handarbeit. Frauen, Männer und Kinder tragen die zuvor am Feld abgemähten Reisbüschel heran. Am Ende fallen die ausgesiebten Reiskörner in einen Sack, der aufgefüllt, zugebunden und abgewogen wird. Es ist eine schweißtreibende, staubige Arbeit. Als der Muezzin in der nahegelegenen Moschee zum Abendgebet ruft, wird die Arbeit für diesen Tag beendet.

So weit, so ägyptisch. Und so wenig haben diese Szenen mit „Klein-Italien“ zu tun, dem Spitznamen des Dorfes, in dem es auch eine Mailand-Gasse gibt. Italienisch ist vor allem ein Teil des Dorfes, der nicht zu sehen ist.

Um das Überleben ihrer Familien zu sichern, hat sich ein großer Teil der Männer des 15.000 Einwohner zählenden Dorfes mit Hilfe von Schleusern auf den illegalen und gefährlichen Weg über das Mittelmeer gemacht. Weit über die Hälfte der jungen Männer, sagen die Dorfbewohner, wie viel genau, weiß niemand. Sie arbeiten auf Baustellen in Mailand und Rom und schicken einen Teil des Verdienstes zurück in ihr Dorf.

Die Früchte der europäischen Arbeit haben den Ort zu einer Art Zweiklassen-Gesellschaft gemacht. Wer niemanden hat, der in Italien arbeitet, haust weiter in einer der ärmlichen heruntergekommenen unverputzten Lehmhütten. Die mehrstöckigen neuen Ziegelhäuser sind meist mit dem in Italien verdienten Geld gebaut.

„Wir nennen diese Fabriken den Friedhof der Jugend“

Sayyed El-Zaghl steht in seinem Tante-Emma-Laden, in einem dreistöckigen Haus, das er neu gebaut hat. Fünf Jahre hat er in Mailand auf dem Bau gearbeitet, bevor er zurückkam, um im Dorf eine neue Existenz zu gründen. „Mir war von Anfang an klar, ich fahre, um meine Familie finanziell zu unterstützen. Obwohl meine Mutter strikt dagegen war. Und mir war klar, ich bleibe fünf Jahre, spare ein bisschen Geld und dann komme ich wieder zurück.“

Zu Hause hat er wie viele andere junge Männer keine Arbeit gefunden. Und in den Fabriken in einer Industriezone am Rande des Nildeltas wollte er nicht arbeiten. „Wir nennen diese Fabriken den Friedhof der Jugend. Man braucht zwei Stunden bis dorthin, dann arbeitet man eine 12-Stunden-Schicht und dann zwei Stunden später, ist man wieder zurück im Dorf“, sagt El-Zaghl.

So bleibe nur noch Zeit zum Essen und Schlafen und der Verdienst sei gerade einmal genug, um nicht zu sterben, aber zu wenig zum Leben. Mit dieser Arbeit das Geld zusammenzukratzen, um etwa heiraten zu können, das sei unmöglich, sagt er.

El-Zaghl hat das mit seinem in Mailand verdientem Geld geschafft. Heute hat er eine Frau und zwei Kinder. An die Überfahrt erinnert er sich nur ungern. Über 200 Menschen waren auf einem viel zu kleinen Kutter zusammengepfercht, der am Ende mit Wasser vollgelaufen war. Sie mussten an die italienische Küste schwimmen. Neben ihm war ein Bekannter ertrunken. Als Vater würde er die Überfahrt nicht noch einmal wagen, sagt er.

Für Sayyed Taha sind gerade seine Kinder der Grund, den Weg über das Meer zu suchen. Fünf Stück hat er davon. Genauso oft hat er versucht, mit dem Boot nach Europa zu kommen. Einmal wurde er bereits an der Küste in Ägypten festgenommen, einmal hat das Boot versagt.

Immerhin zweimal hat er es nach Malta und einmal nach Italien geschafft. Jedes Mal wurde er zurück in sein Dorf deportiert. Aber er gibt nicht auf: „So lange ich lebe, werde ich versuchen, auszuwandern. Hier kann ich meine Familie kaum durchbringen. Manchmal können wir uns zwei, drei Wochen, manchmal einen ganzen Monat kein Fleisch leisten“, beschreibt Taha seine Lage.

Sie hatten ihre Kleidung angezündet

Auch Emad Wahba hat es über das Meer versucht. Obwohl er ein Diplom in seiner Tasche hat, arbeitet der Vater von drei Kindern als Anstreicher. Umgerechnet 12.000 Euro zahlte er für die Überfahrt an einen Schleuseragenten. Die ganze Familie hat damals zusammengelegt. Aber nach drei Tagen auf hoher See fiel der Motor aus und das Boot drohte zu kentern. Sie hatten ihre Kleidung angezündet, um entdeckt und gerettet zu werden. Am Ende wurden sie von einem libyschen Schiff aufgenommen, das sie dorthin zurückgebracht hat.

Geschichten von Erfolg und Misserfolg liegen in Mit Gabr eng beisammen und alle drehen sich um das zwei Autostunden entfernte Mittelmeer. Jeder kennt die Mittelsmänner, die gegen ein Entgelt die Kontakte zu den Schleusern an der Küste herstellen. Das gesamte Nildelta ist von einem dichten Netz dieser „Makler“ überzogen.

Dabei geht es den Dorfbewohnern von Mit Gabr auch immer um den sozialen Status. „Wenn einer es nach Italien geschafft hat, dann kriegt er hier im Dorf jede Frau zur Gattin, er kann auch noch so ungebildet sein. Aber wenn er hier bleibt, selbst wenn er eine Universitätsausbildung hat, dann will ihn niemand“, sagt Wahba.

Früher, sagen die Alten im Dorf, konnten sie sich noch von ihrem Land ernähren. Wer sich heute eine Existenz aufbauen möchte, der müsse den Umweg über Europa machen, sagt der Alte Abdel Aziz Helal, den alle nur Azuz nennen, und der mit seiner blauen Galabiya, seinem für die Bauern typischen Beinkleid, seinem weißen Schal und einer braunen pharaonisch wirkenden hochstehenden Mütze, auf seinem Gehstock gelehnt auf der Bank vor seinem Haus sitzt und dem Treiben auf der Straße zusieht. „Wir haben fast all unser Hab und Gut verkauft, damit mein Sohn nach Italien kommt“, erzählt er.

Keine Flüchtlinge, sondern Arbeitsmigranten

Doch der Traum von Europa hat sich bisher nicht erfüllt. „Er arbeitet dort als Tagelöhner am Bau. Einen Tag hat er Arbeit, neun Tage sitzt er herum. Sein Einkommen deckt gerade mal seine Fixkosten ab“, sagt Azuz.

Wie viele anderen Auswanderer habe auch sein Sohn einen höheren Schulabschluss. Aber hierzulande gebe es eben keine Arbeit. „Was soll er denn auch machen. Ein junger Mann mit 28 Jahren, er will heiraten, und so eine Hochzeit kostet umgerechnet 10.000 Euro. Die ganzen Auswanderer haben die Ansprüche in die Höhe getrieben. Alle wollen es ihnen gleichmachen.“

Die Männer Mit Gabrs sind keine Flüchtlinge, sondern klassische Arbeitsmigranten, wie es sie immer in Ägypten gab, früher auf dem Bau in Libyen oder am Golf. Die meisten wollen nicht in Europa bleiben, sondern nur ein paar Jahre dort arbeiten und genug Geld verdienen, um in ihrem Dorf eine Existenz aufzubauen. Wenn es nicht legal geht, dann eben illegal und risikoreich.

Erst vergangenen Monat war der Schock in „Klein-Italien“ groß, als die Nachricht kam, dass eines der Schlepperboote vor der ägyptischen Küste gekentert war. Über 200 Leichen wurden aus dem Meer geborgen. Einige liegen jetzt im Nachbardorf auf dem Friedhof.

Die Chance auf ein gutes italienisches Los

Abschrecken tut das kaum. Was Europa angeht, sind sie realistisch. Jeder im Dorf kennt italienische Erfolgsgeschichten, aber jeder hat auch von jenen gehört, die es nach Mailand geschafft haben und die kein Geld heimschicken.

Die Familien verkaufen ihr Hab und Gut, um in die Zukunft ihrer Söhne zu investieren. Dem wirtschaftlichen Nichts des Nildeltas steht zumindest die Chance entgegen, ein gutes italienisches Los zu ziehen. Und so lange die Baustellen Mailand und Roms ägyptische Arbeiter brauchen und illegal anstellen, so lange wird diese Migration weitergehen.

Zwischen dem Menschenangebot in Ägypten und der Nachfrage nach billigen Arbeitskräften auf den italienischen Baustellen liegt nur das Mittelmeer – auf der einen Seite ein unehrliches Europa und auf der anderen ein verzweifeltes Nordafrika.

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