Schwarzer Peter gehandelt

Wer ist verantwortlich für die neoliberale Wirtschaftsgewalt der WTO-Verhandlungen? Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung entspann sich ein reger Austausch von Schuldscheinen

„Die NGOs sind kein Weltgewissen, aber als Globalisierungswächter unverzichtbar“

BERLIN taz ■ Nach „The Battle of Seattle“ und „Wir war’n alle da in Genua“ dann „High Noon in Cancun“? Wird das die nächste Parole der GlobalisierungskritikerInnen sein, wenn im September 2003 die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) im mexikanischen Cancun tagt? Derzeit betreibt die WTO hinter verschlossenen Türen eine umfassende Privatisierung von Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung oder Wasser. Diese GATS-Verhandlungen („General Agreement on Trade in Services“) haben einen so engen Zeitrahmen, dass öffentliche Debatten darüber kaum möglich sind: Alle 144 WTO-Mitgliedsstaaten sollen schon bis März 2003 ihre Liberalisierungsangebote abgeben. WTO und GATS seien „die größten neuen Bedrohungen für die Demokratie“, findet Attac-Vizepräsidentin Susan George und fordert den Stopp der demokratisch nicht legitimierten Geheimverhandlungen.

Vor diesem Hintergrund lud die Friedrich-Ebert-Stiftung am vergangenen Freitag in Berlin VertreterInnen von WTO, Politik und Zivilgesellschaft zum Dialog. Wer ist eigentlich verantwortlich für diese klaffende Demokratielücke und wie ist sie zu schließen? Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, löste auf dem Podium und im Publikum einen regen Handel mit Schuldscheinen aus.

In Deutschland seien die WTO-Verträge 1994 ohne jede Debatte durchs Parlament gejagt worden, berichtete Moderatorin Christiane Grefe von der Zeit. In den Vereinigten Staaten sei eine Belohnung von 10.000 Dollar für diejenigen Abgeordneten ausgesetzt worden, die die Verträge gelesen hatten – und niemand meldete sich. Sind also die Abgeordneten schuld?

Nein, widersprach Franz Nuscheler, Direktor des Duisburger Instituts für Entwicklung und Frieden, der als Mitglied der Enquetekommission Globalisierung „hilflose“ ParlamentarierInnen zu betreuen hatte, die „händeringend“ bei kompetenten NGOs Hilfe suchten. Organisationen wie „German Watch“ hätten inzwischen ein weit größeres Wissen als der Wirtschaftsausschuss des Bundestags, konstatierte der Professor. Zudem würden die Parlamentäre von ihren Regierungen kaum je über den Stand der Verhandlungen unterrichtet. Ist also die Regierung schuld?

Widerspruch bei den anwesenden Ministerialbeamten. Selbstredend würde das Parlament über alles, auch Vertrauliches, informiert, so Arno Schwed, WTO-Zuständiger beim Bundeswirtschaftsministerium. Und überhaupt sei es am schlimmsten, wenn gar kein Welthandelsmechanismus zustande käme, die Amerikaner immer mehr bilaterale Verträge aushandelten und die NGOs „in der Essenz nur blockieren“, ergänzte Otto Lampe vom Auswärtigen Amt. Sind also die NGOs schuld? Natürlich nicht, konterte Professor Nuscheler. Zwar gebe es einige, die die NGOs als „Weltgewissen“ allzu sehr verklärten. Aber als „Globalisierungswächter“ seien sie unverzichtbar, weil zu vieles im nichtöffentlichen Raum verhandelt werde. Ist also die WTO alleine schuld?

Nein, wies ihr Vertreter Hans-Peter Werner die Kritik zurück. Die WTO habe sich doch schon längst der Zivilgesellschaft geöffnet, es gäbe Symposien und Seminare für NGOs. Auch die US-Vertreter hätten sich dafür eingesetzt, die Türen bei den Streitregelungsverhandlungen für NGOs zu öffnen, aber die Entwicklungsländer seien dagegen. Sind also die Länder des Südens schuld?

23 von ihnen sind so arm, dass sie sich gar keine Vertretungen bei der WTO leisten können, und auch in Berlin waren keine repräsentiert. An ihrer Stelle widersprach Shefali Sharma vom Institute for Agriculture and Trade Policy in Genf: Nein, die vier stärksten Handelsmächte, darunter auch Deutschland, das seien die wichtigsten Strippenzieher der WTO.

Also doch der Bundeswirtschaftsminister, vertreten durch die EU-Kommission, vertreten durch ihre Vertreter in Genf – und kein Gesicht, keine Person, die sich für tatsächlich verantwortlich erklärt. Das ist es doch genau, was die „Globalisierungswächter“ so wütend macht.

14 europäische Attac-Gruppen haben vor gut einer Woche beim Sozialforum in Florenz denn auch eine Kampagne gegen die weltweite Liberalisierung von Dienstleistungen im Rahmen der GATS-Verhandlungen beschlossen. Man wolle Druck auf Abgeordnete machen, sich mit „den Geheimverhandlungen“ zu befassen, erklärte das deutsche Netzwerk der Globalisierungskritiker. Für den 31. März ist eine europaweite Demonstration in Brüssel geplant. UTE SCHEUB

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