Arbeitswut an der Weser

Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Holger Heide über Arbeitssucht als Phänomen der Moderne: Arbeitssucht ist eine „Verhaltensstörung der Moderne“. Alleine kommt da niemand raus

Das Interesse an Holger Heides Buch „Massenphänomen Arbeitssucht“* ist beträchtlich. Gerade hat der Wirtschaftswissenschaftler der Universität Bremen den Sammelband über die „Volkskrankheit“ auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Auf das Thema stieß er bei Asien-Reisen, die er im Zuge der deutschen Werften-Krise unternahm. Bei seiner Rückkehr entdeckte er auch hier Spielarten des japanischen Arbeitswut-Phänomens Karoshi.

taz: Guten Abend. Es ist nach Redaktionsschluss. Haben Sie mich jetzt als arbeitssüchtig in Verdacht?

Holger Heide: Naja, ich arbeite ja auch.

Und wenn ich jetzt sage, antworten Sie bitte schnell, damit ich gleich frei habe – wäre das ein gesundes Zeiches?

Ach, das kann man auf die Schnelle so nicht entscheiden.

In Ihrem Buch sagen Sie, die Arbeitsgesellschaft werde durch etwas „grundlegend Pathologisches“ charakterisiert. Arbeitssucht sei eine „Verhaltensstörung der Moderne“. Was meinen Sie?

Nun, Aussagen über die Moderne trifft man natürlich aus historischer Sicht. Aber ich will mich mal vereinfacht auf den Volksmund beziehen. Da heißt es ja landläufig: „Arbeiten mussten die Menschen schon immer.“ Das sei quasi identisch mit Mensch-sein. Aber das ist eine sehr oberflächliche, falsche Betrachtung. Die heutige Arbeitsgesellschaft hat sich erst in der Moderne herausgebildet – wobei auch das schon wieder fast wie ein natürlicher Prozess klingt, so natürlich wie Pflanzen eben wachsen. Dabei ist die Arbeitsgesellschaft mit der Entwicklung des Kapitalismus richtig vorangetrieben worden.

Sie bezeichnen Arbeitssucht als Folge eines kollektiven Traumas – der Erfahrung, mit der Industrialisierung gebrochen worden zu sein, quasi als Mensch der Maschine gehorchen zu müssen.Wie reagieren Kollegen darauf?

Das Buch hat allgemein enorme Resonanz. Die Kollegen aus der Ökonomie reagieren aber kaum, und wenn, dann höchstens die, die sich mit Personalwirtschaft aus betriebswirtschaftlicher Sicht befassen. Da ernte ich aber auch Kritik, weil manche meinen, ich würde quasi dem Opfer die Schuld geben, weil es nur in süchtiger Weise mit seiner Arbeitssituation umgehen kann.

Wie entkommen Arbeitssüchtige ihrer Lage?

Paragraph eins: Sie müssen erkennen, dass etwas schief läuft. Ich habe alle möglichen Süchte untersucht und fast immer sieht man: Umkehr ist daran gebunden, dass Betroffene erkennen, dass sie in der Gosse gelandet sind. Aber nicht jeder muss in der Gosse landen, um seine Lage zu erkennen. Paragraph zwei lautet: Finde den Weg aus der Sucht. Wobei die Frage „Wie komme ich da raus?“ meist dazu führt, dass Betroffene wieder auf süchtige Weise versuchen, nicht mehr süchtig zu sein. Der bloße Wille führt nicht aus der Sucht. Man braucht die Unterstützung anderer.

Wo findet man die?

Ein Problem ist, dass Arbeitssucht selten als Diagnose gestellt wird. Mir hat ein Mediziner eines Bremer Großunternehmens mal gesagt, er schätzt die Arbeitssüchtigen in seiner Firma auf rund sieben Prozent – aber dramatisch fände er, dass von den vielen Kranken 40 Prozent wegen Rückenleiden ausfallen. Das ist schlagkräftig, zeigt aber auch, wie hier nur auf Symptome und nicht auf die Ursache der Krankheit geguckt wird – wobei ich nicht sage, dass die alle arbeitssüchtig wären. Ansonsten muss sich jeder meist selbst helfen, im Internet stehen Hinweise auf die anonymen Arbeitssüchtigen.

Sie schreiben, Arbeitssucht sei der Versuch, der unerträglichen Realität der Gesellschaft ausgerechnet durch Arbeit zu entfliehen. Die Genesung vom Suchtprozess erfordere auch offene Auseinandersetzung mit der Realität der Arbeitsgesellschaft und Begriffen wie „Profit, Macht und Konkurrenz“.

Ja. Natürlich kann man so was nicht alleine leisten. Aber es gibt etliche gute Kliniken in Deutschland, die Arbeitssucht als Sucht behandeln. Patienten, die von dort zurückkehren, haben meist ein anderes Verhältnis zu ihrer Arbeit gefunden – was jetzt nicht heißt, dass sie Klassenkämpfer geworden wären. Aber sie haben erkannt, dass sie nicht alleine sind und dass sie nur gemeinsam mit anderen da rauskommen.

Woran erkennt man Arbeitssüchtige?

Ich hüte mich lieber vor einer Schnelldiagnose. Aber Symptome kann der Arbeitssüchtige an sich erkennen, wenn er betrachtet, wie lange er arbeitet oder wie viel er an die Arbeit denkt oder ob er von ihr sogar besessen ist. Manche Leute sagen, also gut, um halb acht Feierabend – aber dann können sie nicht einschlafen, weil sie ständig an den nächsten Arbeitstag denken. Auch das ist ein Zeichen.

Sind manche Menschen stärker Arbeitssucht-gefährdet als andere?

Ja. Gefährdet sind Menschen, die Verantwortung für die Einteilung ihrer Arbeit und ihrer Intensität haben, wenn sie beispielsweise Zielvorgaben erfüllen müssen. Weniger gefährdet sind sicher Leute, die untergeordnete Tätigkeiten ausüben. Wer nur eine bestimmte Stundenzahl arbeitet und dann nach Hause gehen muss, kann an der Stelle nicht wirklich süchtig werden.

Teilzeitbeschäftigte Frauen sind also keine Risikogruppe?

Ich würde sagen, grundsätzlich sind Frauen zu einem Teil heute Arbeitnehmer wie Männer und sind da vermutlich ähnlich betroffen. Aber auch Hausfrauen, so scheint es, können arbeitssüchtig werden.

Putzwahn.

Das klingt ja immer etwas abfällig, wäre aber plakativ. In jedem Fall ist Antriebsmotor das Gefühl, immer etwas tun zu müssen, um gar nicht erst das Gefühl zu bekommen, dass die eigene Arbeitsleistung wenig wert wäre. Man kann natürlich Arbeitssucht auch positiv definieren: dass jemand sich selbst verwirklichen will und immer leisten muss, leisten muss, leisten muss. Das andere ist: Jemand kann nichts anderes tun als arbeiten, arbeiten – um nichts mehr zu fühlen. Die Tätigkeit kann sogar sinnlos sein und mit Leistung nichts mehr zu tun haben.

Wie sind Sie zum Thema Arbeitssucht gekommen?

Meine Arbeit zu den Werften und deren Niedergang hier brachte mich irgendwann nach Ostasien, wo die gestiegene Nachfrage an Schiffen jetzt billiger gedeckt wird. Ich fuhr oft nach Japan und Korea und beobachtete, dass die Beschäftigten in den Fabriken auf eine hier gar nicht vorstellbare Art arbeiteten. Die rannten immer, auch wenn sie es gar nicht eilig gehabt hätten. Später habe ich gemerkt, solche Phänomene gibt es hier auch – wenn auch anders. In der Verwaltung und in der Uni habe ich das beobachtet und dann versucht, das zu verallgemeinern und meine eigene Arbeitsweise natürlich auch überprüft.

Arbeiten Sie jetzt weniger?

Ich glaube fast nicht. Aber ich arbeite anders. Und darum geht es. Das wichtigste Kriterium ist eben nicht die Menge an Arbeit, sondern die Art und Weise wie ich sie erledige.

Fragen: Eva Rhode

*Massenphänomen Arbeitssucht, Atlantik Verlag Bremen, 15 Euro