Der Raketenmann

Der neue indische Präsident Abdul Kalam baute als Asket und Poet die Atomraketen seines Landes. Jetzt will er Indiens Jugend motivieren

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Indiens neuer Staatspräsident heißt A. P. J. Abdul Kalam. Gestern wurde das Ergebnis der Wahl bekannt, welche die Abgeordneten der 28 Provinzparlamente und zwei nationalen Kammern drei Tage zuvor durchgeführt hatten. Kalam erhielt 4.152 der 4.785 Stimmen und damit auch die der Kongresspartei und weiterer Oppositionsparteien. Seine Gegenkandidatin, die über achtzigjährige Freiheitskämpferin Lakshmi Sahgal, unterstützten nur Linksparteien.

Die Wahl des muslimischen Tamilen aus Südindien ist ein Glück für die Regierung, allen voran den BJP-Premierminister A. B. Vajpayee. Mit dem 71-Jährigen konnte er einen Vertreter der Minderheit gewinnen, dessen universalistische religiöse Gesinnung gut zum multireligiösen Ethos Indiens passt. Die hindu-nationalistische BJP hofft damit den großen Schaden zu reparieren, den ihre Vertreter zuletzt in Gujerat anrichteten. Dort hatte die lokale BJP-Regierung nichts unternommen, als in einer Gewaltorgie über tausend Muslime starben.

Kalams Nominierung fiel der BJP umso leichter, weil er als „Vater des indischen Raketenprogramms“ nicht nur die Entwicklung der Raumfahrt wesentlich mitbestimmt hat, sondern auch die Trägersysteme für Indiens Atomwaffenprogramm schuf.

Seine Unterstützung durch einen Großteil der Opposition zeigt, dass das eher symbolische Präsidentenamt noch nicht durch parteipolitischen Streit geschwächt wurde. Kalam könnte für Indien ein Glücksfall sein. Denn das Bild eines naiven waffen- und technologiesüchtigen Wissenschaftlers kontrastiert mit einer Persönlichkeit, deren Bescheidenheit und einfacher Lebensstil sich mit einer Vorliebe für Lyrik und Musik verbindet und durchdrungen ist von fast naiver Religiosität. Kalams Nationalismus ist der eines Patrioten, der in einer starken Nation eine Projektionsfläche sucht, um die Jugend zu motivieren, ihre Kreativität und Intelligenz zu verwirklichen.

Als Junge habe er den Seemöwen zugeschaut und davon geträumt zu fliegen, schreibt Kalam in seiner Autobiografie „Wings of Fire“. Die Chancen dafür standen schlecht: Der Sohn eines armen Bootsbauers verdiente sich sein Schulgeld als Zeitungsjunge und wurde Vegetarier, weil sich die Familie kein Fleisch leisten konnte. Doch dank einer Schwester, die ihren Heiratsschmuck verpfändete, wurde Kalam doch Flugzeugingenieur. Bei der Luftwaffe fiel der Schmächtige durch, doch fand er eine Anstellung im Verteidigungsministerium. Als er den Prototyp eines Luftkissenbootes zum Schweben brachte, kam er in das Team, das die Grundlagen für Indiens Raketen legte.

Es war weniger sein wissenschaftliches Genie, sagen frühere Mitarbeiter, als seine Team- und Führungsfähigkeit, die ihn zum „Vater der indischen Rakete“ machte. Kalam entwarf auch Trägersysteme für Waffen und bastelte an Raketen für geheime Lasten-Atombomben. Nach dem „friedlichen“ Atomtest von 1974, als sich Indien weder für noch gegen Atombewaffnung entscheiden konnte, war die Rolle des gefeierten Raketenbauers immer mehr die Maske, hinter der er einer der Koordinatoren des geheimen Atomprogramms wurde, das mit den Tests 1998 öffentlich wurde. Für die Linke ist Kalam der naive Wissenschaftler, der in seinem Technikfimmel den Politikern die Werkzeuge ihrer Zerstörungsmacht gab, und der fromme Muslim, der den Hindu-Nationalisten die Bombe vor die Tür legte. Doch vor zwei Jahren trat Kalam plötzlich von seinem Posten als wissenschaftlicher Berater der Regierung zurück. In einem Pamphlet analysierte er schonungslos Indiens Befindlichkeit und stellte ihr eine „Vision 2020“ entgegen, einen Traum der Selbstverwirklichung, den er als Person realisiert hatte: die Emanzipation aus Armut, Analphabetismus, Krankheit.

Kalam reiste durchs Land, um in der Jugend das Feuer zu entfachen, das ihn angetrieben hatte. Als ihn die Politiker zum Präsidentschaftskandidaten machten, lockte nicht der Wechsel von seiner Einzimmerwohnung in Hyderabad in den 350-Zimmer-Palast in Delhi. Der frühere Sitz der britischen Vizekönige verschafft ihm eine Plattform, von der er Indien zu einem Höhenflug verhelfen will.