Ärger im Paradies

Jetzt wird sie die himmlische Filmkritik aufmischen: Am Montag starb Pauline Kael, bis 1991 cineastische Starautorin von „The New Yorker“

Wenn Film so etwas wie Sex ist – dann kommt es nicht nur auf Glamour an

von KURT SCHEEL

Zur Filmkritik habe ich immer ein zwiespältiges Verhältnis gehabt. Zu oft wurde sie von Leuten betrieben, die vielleicht das Große Latinum hatten, aber wenig vom Kino verstanden; die es benutzten, um ihre Ansichten über Gott, Godard und die Welt herauszuposaunen. Das schöne Filmgespräch, das ich so liebte, die Zigarette danach, wenn man einander in traulicher Runde die spannendsten Szenen und raffiniertesten Schnitte vor Augen führte, die Fehler und die Geistesblitze der Regie in Erinnerung rief, lobte und nörgelte – „Greenaway gehört ins Museum, nicht ins Kino“: das fand in der Kneipe statt, wenn man die richtigen Kumpane dabeihatte, nicht im Feuilleton. Also diese Mischung aus lässigem Fachmannstum, das lächelnd den Unterschied zwischen McGuffin und „red herring“ explizierte, und jener erleuchteten Aufgeregtheit, wenn man sich über Preston Sturges begeisterte oder über den Autorenfilm herzog.

Aber ist nicht gerade Preston Sturges ein „auteur“ avant la lettre? Und was ist mit Truffaut, seinen Filmen und seinen Kritiken? Joe Hembus’ „Western Lexikon“, Blumenbergs Essays, damals in den Sechziger- und Siebzigerjahren in der Zeit? Ja, es gab immer ein paar Kritiker, die in ihren Artikeln so über Film sprachen wie wir in der Kneipe; enthusiastisch, mit vollem Herzen, überschwänglich in Lob und Tadel.

Wie ich eigentlich auf Pauline Kael gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich sind mir ihre spitzen, witzigen Sätze aufgefallen, die „Halliwell’s Film Guide“ gelegentlich zitierte. Jedenfalls besorgte ich mir Anfang der Achtzigerjahre manchmal den New Yorker, wo sie mit einer kurzen Unterbrechung von 1968 bis 1991 ihre Filmkritiken veröffentlichte, alle vierzehn Tage, in oft unglaublicher Länge, und womit sie die berühmteste, erfolgreichste Movie-Publizistin ihrer Zeit wurde. Und dann kaufte ich mir ein erstes Buch von ihr, „Reeling“, gesammelte Kritiken 1972–1975. Da besingt sie in den höchsten Tönen Bertoluccis „Der letzte Tango in Paris“ und Scorceses „Mean Streets“, macht Fosses „Lenny“ und Fellinis „Roma“ nieder, verbeugt sich vor Fred Astaire und Ginger Rogers, rettet Altmans schönsten Film „Nashville“, indem sie über die Rohschnittfassung so detailliert berichtet, dass sich die Produzenten nicht mehr an die beabsichtigte Kürzung trauen.

Kaels Filmgeschmack war geprägt von Hollywoodfilmen der Dreißigerjahre wie Hawks’ „Front Page“ oder „Duck Soup“ von den Marx-Brothers – und eben von den wilden Regisseuren der Siebziger, den Easy Riders und Raging Bulls. Sie schrieb für Leute, die lieber ins Kino gehen als eine Aufnahmeprüfung fürs Seminar „Grammatik des Films II“ ablegen; die ein Gefühl für Schund und Poesie haben, für die Film so etwas wie Sex ist – was bedeutet, dass es nicht nur auf Glamour ankommt: „Der bestaussehende Kerl im Raum ist vielleicht der schlechteste Liebhaber“, wie Louis Menand in seinem wunderbaren Kael-Porträt im Merkur (Nr. 557, August 1995) schreibt.

Da war also endlich jemand, der intelligent und engagiert, ohne Kunstfrömmelei und Pedanterie, sophisticated, aber nicht snobistisch über Filme schrieb: Da war also endlich jemand wie ich! Nicht, dass wir uns in allen Punkten einig gewesen wären. Paulines Aversion gegen Kubrick fand ich schon etwas merkwürdig. Aber sie als naive Amerikanerin konnte mit dem europäisch-eleganten Zynismus von „Clockwork Orange“ naturgemäß wenig anfangen. Für sie war das eine teutonische, pornografische, gewalttätige Sciencefiction-Komödie – eigentlich eine gute Beschreibung, freilich hasste sie den Film dafür, was uns als unmögliches und großartiges Amalgam erschien.

Oder ihre Wut auf Frank Capra: „Niemand kann das Auf und Ab von schwermütigem Gefühl und verlogenem Humor so gut wie Capra ausbalancieren. Sollte es noch einer lernen, bringt ihn um.“ Auch ein bekennender Capra-Fan muss zugeben: Der zweite Satz ist brillant; er ist witzig; man sollte ihn befolgen. Ändert nichts daran, dass nur ein völlig verhärteter Unhold nicht in Tränen ausbricht, wenn er Weihnachten „Isn’t Life Wonderful?“ mit Jimmy Stewart sieht.

Bei Pauline Kael kann man lernen, was eine gute Filmkritik ausmacht: Sie gibt im Großen und Ganzen die Ansichten ihres Lesers getreulich wieder. Wenn dabei noch Argumente angeführt werden, die im Kopf des Lesers erst rudimentär vorhanden sind, handelt es sich um eine sehr gute Filmkritik. Den Höhepunkt aber erreicht man mit Texten, denen der Leser in der Sache gar nicht zustimmen muss, die aber von solch einer Leidenschaft fürs Kino geprägt sind, dass er ihnen nur voller Verwunderung und Bewunderung zusehen kann: Wie schön wird ein Text, wie schön wird ein Mensch, wenn er liebt.

Wen ich jetzt angefixt habe, der sollte sich die Best-of-Sammlung „For Keeps“ kaufen, 1.200 der klügsten, witzigsten, boshaftesten (Cineasten aufgepasst!) Seiten über Filme, die man momentan für schnöden Mammon erwerben kann. Mit 82 Jahren wurde Pauline Kael am Montag abberufen. Sie sitzt jetzt zur Rechten des Großen Regisseurs, der naturgemäß auf Ingmar Bergman steht. Aber die rechthaberische Kael soll schon daran arbeiten, Ihm statt dessen Coppola und „The Godfather“ nahe zu bringen . . .