„Den Opfern ein Bleiberecht geben“

Bundestagspräsident Thierse (SPD): „Mit Abschiebungen exekutiert man den Willen der Rechtsextremen“

taz: Alle paar Monate streifen Sie durch den Osten, Herr Thierse, um über Rechtsradikalismus zu reden. Wie nehmen Sie die Veränderungen zum Thema bei diesen Reisen wahr?

Wolfgang Thierse: Am Rechtsradikalismus hat sich nichts geändert. Vielmehr ist das Problem in den vergangenen Jahren schlimmer geworden. Geändert hat sich aber die Offenheit, mit dem man darüber spricht. Lokalpolitiker und Landespolitiker wehren das Thema nicht mehr ab. Im Gegensatz zu Diskussionen von vor zwei Jahren spricht man heute schärfer über den Rechtsradikalismus.

Wie beurteilen Sie die neue Diskussionsfreude?

Es ist ein zweifelhafter Fortschritt. Denn das Problem ist ja nicht geringer geworden, wir haben lediglich ein höheres Problembewusstsein in der Öffentlichkeit dafür.

Das klingt resigniert.

Nein, aus mir spricht die nüchterne Einsicht, dass man auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen agieren muss.

Würden die Angriffe denn weniger, wenn die Behörden jedem überfallenen Asylbewerber automatisch ein Bleiberecht gäben?

Das wäre ein sinnreicher Vorschlag. Man darf nicht jemanden, der Opfer rechter Gewalt wird, auf Grund des Asylgesetzes des Landes verweisen. Damit exekutiert man den Willen der Rechtsextremen. Man muss das genaue Gegenteil tun. Man muss ihnen ein Bleiberecht geben.

Welche Wirkung hätte dies?

Ich bin allerding nicht sicher, ob das nicht auch zu einer Zuspitzung der Atmosphäre führen könnte. Aber das wäre eine nachgeordnete Frage. Aus dem elementaren Grund, das der Rechtsstaat die Pflicht hat, Opfer rechter Gewalt in besonderer Weise zu schützen, heißt das: Bleiberecht.

Wie wollen Sie diese Forderung durchsetzen?

Das Thema gehört in die Diskussion um die Vorschläge, die uns die Zuwanderungskommission im Herbst vorlegen wird. Wir müssen erreichen, dass wir aus entschieden emotionalen Gründen besonders rational über das Thema diskutieren. Und wenn es gelingt, im Rahmen eines Zuwanderungskonzeptes den Umgang mit Asylsuchenden zu verändern, dann wäre dies die rationale Weise, die ich meine. Aus dem Gedanken der elementaren Rechtsstaatlichkeit heraus dürfen wir die Opfer nicht abschieben. Ein Bleiberecht wäre von hoher symbolischer Wirksamkeit.

INTERVIEW: ANNETTE ROGALLA