Von der Last des Karlsruher Urteils

Rechnen, überlegen, Konzepte suchen. Am Tag nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Pflegeversicherung begeben sich alle auf die Suche nach einem neuen System. Der Rentenexperte Rürup: Kein Beitrag zur Stärkung der Sozialversicherung

von ANNETTE ROGALLA

Einstimmen im Chor der Jubler mag Bert Rürup nun wirklich nicht. Als Meilenstein bewertet er das Urteil zur Pflegeversicherung der Bundesverfassungsrichter keineswegs. „Es ist kein Beitrag zur Sicherung der Sozialversicherungssysteme“, sagt der Sozialversicherungsexperte.

Für besonders problematisch hält Rürup den Kern des Urteils. So sollen Familien bis zum Jahr 2005 von den Pflegebeiträgen entlastet werden. „Konkret bedeutet dies eine Beitragssenkung“, so Rürup. Folge man dieser Logik, müssten die Beiträge für Kinderlose zwangsläufig steigen. Nicht nur in der Pflegeversicherung könnten demnächst Eltern und Kinderlose einen unterschiedlichen Beitrag zahlen. Auch in der Renten- und Krankenkasse muss nach dem Willen der Richter ein neues System einziehen. Für eine neue Beitragssystematik sieht Rürup folgende Möglichkeiten: Die Beiträge für Eltern werden gesenkt, die für Kinderlose im gleichen Ausmaß erhöht. Oder: Eltern zahlen vom Beitragssatz her die gleiche Höhe wie Singles, bekommen aber am Ende des Jahres über einen steuerlichen Zuschuss einen Teil zurückerstattet. Variante C geht von einem Freibetrag für Eltern aus: Wer etwa 3.000 Mark verdient, zahlt einen Beitrag, als würde er 2.000 Mark beziehen.

Die Frage der Beitragsgerechtigkeit zieht eine viel tiefer gehende Diskussion nach sich, als es auf den ersten Blick scheint. Das Versicherungsprinzip muss neu verhandelt werden. In der Rentenversicherung sind die Auszahlungen direkt an die Einzahlungen gekoppelt. Unterschiedliche Beitragshöhen würden dieses Grundprinzip mit einem Schlag außer Kraft setzen. In der Krankenversicherung zahlen Kinderlose aber schon heute für die 21 Millionen kostenlos versicherten Ehefrauen und Kinder mit. Wie in der Pflegeversicherung bemessen sich die Leistungen der Krankenversicherung nicht nach der Höhe der Einzahlungen, sondern daran, welche Hilfe für den Einzelnen notwendig ist. Woran bemisst sich in Zukunft die gerechte Verteilung?

„Ich hätte mir ein anderes Urteil gewünscht“, sagt Bert Rürup. Eines, das alle Erwerbstätigen in eine gemeinsame Pflegeversicherung zwingt. Die Selbstständigen genauso wie die Beamten und Angestellten. Finanziert werden könnte diese Kasse aus Steuermitteln. Ein Gedanke, der bei den Grünen mit Sympathie aufgenommen wird. Christine Scheel, Finanzexpertin der Grünen, denkt auch an „eine ganz neue Pflegeversicherung“. Alle sollen einzahlen und zwar wie bisher zum gleichen Beitragssatz. Allerdings will Scheel in diese Zwangsversicherung eine „steuerfinanzierte Kinderkomponente“ einbauen, um den Ansprüchen aus Karlsruhe zu genügen. Wie dieser Elternbonus gewährt werden könnte, ob als steuerliche Zulage oder als Freistellung von Beiträgen in Zeiten der Kindererziehung, darüber sind sich die Grünen noch nicht im Klaren.

Überall werden die Rechenschieber gezückt. Walter Riester dagegen bleibt ruhig. Der Arbeitsminister (SPD) sieht nach dem Urteil keinen Anlass für eine Korrektur seiner Pläne bei der Rentenreform. An den Beiträgen werde nichts geändert, sagte er. Die familienpolitische Komponente lasse sich nur über den Leistungsbereich regeln. Und da wähnt er sich auf der sicheren Seite. Durch ein Bonussystem wird die Erziehungsleistung für jedes Kind derzeit mit 150 Mark mehr Rente honoriert.

Bedeckt hielt sich gestern Ulla Schmidt (SPD). Im Gesundheitsministerium hieß es, die Umgestaltung der Pflegeversicherung sei in der kommenden Legislaturperiode ohne Zeitnot zu bewältigen. Aber die Richter konnten Staatssekretär Klaus Schröder doch auch überraschen. Das Urteil „haben wir so nicht erwartet“, sagte er gestern.