Oh, wie verführerisch

Fürsorgliche Bespaßung sollte im Berliner Congress Centrum den Abschied von den alten Gewerkschaften leichter machen

BERLIN taz ■ Es sollte was fürs Herz werden mit viel Stimmung, und ein bisschen frech und feierlich wollte man es auch machen. Jeder sollte sich angesprochen fühlen, niemand durfte am Rande stehen. Und deswegen wurden sie alle auf die Bühne geholt. Der Müllmann, die Verkäuferin, der Bankangestellte, die Journalistin, der Drucker. Ihren großen Auftritt hatten sie am Montagnachmittag im Berliner Internationalen Congress Centrum. Symbolisch jedenfalls.

Auf der großen Bühne standen beim Ver.di-Gründungskongress keine Müllmänner und Krankenschwestern. Sie ließen sich von ausgebildeten Balletttänzern doubeln. Vielleicht weil die besser Rad schlagen können als ein von Rheuma geplagter Straßenfeger. Und so kam das Neue in die Welt: im fein genähten Blaumann und Office-Kostüm, im Muskelshirt und mit Pomade im Haar. Junge Menschen unter 30 verrenkten sich und hoben einander in Balettmanier auf die Schulter. Mit einer Tanzshow der Musicalklasse sollte es den 1.009 Delegierten leicht gemacht werden, Abschied zu nehmen von alten Gewerkschaftsbräuchen. IG Medien, HBV, DAG, DPG und ÖTV heißen seit Montag offiziell Ver.di.

Effektvoll wie ein Parteitag der SPD wurde das Spektakel ins fernsehtaugliche Licht gesetzt. Blauer Hintergrund, strahlende Scheinwerfer, schnell geschnittene Musiktakte. Ein bisschen Pink-Floyd, ein wenig Blasmusik und ganz viel Verdi boten die Wohlfühlfolie. Die kaltgestrickte Symphonie der musikalischen Kleinigkeiten kam an. Wer bei La Donna é mobile aus Rigoletto nicht mitklatschen konnte, fand sich stimmungsmäßig vielleicht bei The Wall wieder. Über allen Musikhäppchen und Tanzschritten hatten die Veranstalter das Motto des Kongresses platziert – sehr groß, aber sehr dezent, aus keinem Augenwinkel zu übersehen: „mehr bewegen – Ver.di“.

Trotz der fürsorglichen Bespaßung ist den Männern und Frauen der Abschied aus den alten Gewerkschaften nicht leicht gefallen. „Im Herzen bin ich noch eine von der HBV“, sagt Ursula Scherer, Verkäuferin aus Düsseldorf, „aber im Kopf denke ich schon alles in Ver.di.“ Eine Übergangszeit wird die Großorganisation schon noch brauchen, damit zusammenwachsen kann, was zusammengehen wollte.

Wehmut liegt auch in der Stimme von Monika Wulf-Mathies: „Ich persönlich war immer mehr für lockere Kooperationsstrukturen, aber die Entwicklung ist darüber hinweggegangen“, sinniert die ehemalige ÖTV-Vorsitzende. In den langen Jahren der Eigenständigkeit habe man sich auch „Scheuklappen“ vor den Partnergewerkschaften „anorganisiert“.

Fast 18 Jahre hat Lutz Eilrich als HBV-Vorsitzender des Landesbezirks Nord gearbeitet. Seine regionale Zuständigkeit erstreckte sich von Schleswig-Holstein über Hamburg bis nach Niedersachsen. Mit der Ver.di-Gründung verliert er nicht nur seine Muttergewerkschaft, sondern auch seinen Titel. „Was ich jetzt bin, weiß ich noch nicht“, sagt er. „Irgend so etwas Ähnliches wie ein persönlicher Referent des neuen Ver.di-Landesvorsitzenden.“ Auch wenn Eilrich noch nicht sagen kann, was demnächst auf seiner Visitenkarte steht, seinen Gehaltszettel kennt er bereits. Finanziell bleibt alles beim Alten. Kein Ver.di-Mitarbeiter soll weniger verdienen als bei seiner alten Gewerkschaft. „Besitzstandswahrung“ nennt man diese Garantie. Dies und die Zusage, bis zum Jahr 2007 niemanden zu entlassen, haben die Gewerkschafter der neuen Organisation abgetrotzt. „Sonst wäre die Motivation für Ver.di bei den Hauptamtlichen doch schnell verflogen“, sagt Lutz Eilrich.

Mit solch saftigen Garantien im Rücken lässt sich zum Schluss dann doch leicht Abschied nehmen. ROGA / RAW