Sexpleite an der Leine

Her mit den kleinen Osteuropäerinnen? Während der Expo in Hannover versuchen tausende Prostituierte die schnelle Mark zu machen. Solange die Weltausstellung geplant wird, plant auch das Rotlichtgewerbe seinen Einsatz am Expokunden. Am meisten gefragt sind Frauen aus dem Osten. Sie machen es mit und ohne Gummi und vor allem recht billig. Am Ende aber haben alle die Rechnung ohne ihre Wirte gemacht. Denn das schleppende Publikumsinteresse an der Leistungsschau um Fragen der Zukunft wirkt sich auch auf den Sexmarkt aus

von PETRA WELZEL

„Man muss den Männern Zucker in den Arsch blasen, dann kommen sie auch wieder“, sagt Biggi. Biggi ist fünfzig, Unternehmerin und weiß, wovon sie spricht. Bis vor zwanzig Jahren hat sie als Bürokauffrau in Hannover gearbeitet, seither betreibt sie einen Einfraubetrieb als Sexarbeiterin in der Leinestadt. Eigentlich will sie mit dem Anschaffen schon seit fünf Jahren aufhören, doch auch in diesem Jahr hat sie wieder eine Ausrede: die Weltausstellung.

Das ganz große Geschäft möchte sie mit der Expo noch einmal machen. Und tut alles dafür. Hilft im Solarium dem Körperteint nach, färbt die Haare feurig rot. Die welkende Haut verpackt sie in silbergraue Dessous und Strapse. Sie bietet den Blow-Job an, mit „Schlucken“ oder „Natursekt trinken“, und – wenn es sein muss – bläst kiloweise Zucker. Aber es kommen keine Männer. Vom Wiederkommen ganz zu schweigen.

Die Selbstvermarktung der käuflichen Frauen von der Leine hat denselben Haken wie die Marketingoffensive der Expogesellschaft: Hinten wird viel reingesteckt – jetzt auch noch die Feldbusch –, aber vorne kommt nicht viel raus. So wie der Kartenverkauf zur Ausstellung – um im Bild zu bleiben – beschissen läuft, herrscht in den Betten der Prostituierten seit der letzten großen Cebitcomputermesse im Februar Flaute. Da können sie so viel Wind machen, wie sie wollen. „So etwas habe ich in den ganzen zwanzig Jahren noch nicht erlebt“, stellt Biggi fest. Das französische Stahlrohrbett mit dem knallroten Frotteespannlaken, auf dem sie verzweifelt eine Zigarette in den Händen dreht, sieht noch so sauber und unbenutzt aus wie vor drei Tagen.

Es ist ein Sonnabend, zwölf Uhr mittags. Biggis Handy klingelt, das ihrer Kollegin Maria, mit der sie Bett und Tisch in der gemeinsamen Dienstwohnung teilt, vibriert hin und wieder. Die Anrufer möchten wissen, wie sie aussehen. „Ich bin 1,68 Meter groß, schlank, habe braunes, schulterlanges Haar und einen schönen, festen Busen“, spricht Maria freundlich ins Telefon, während ihre freie Hand das blauweiß geringelte Baumwollkleid über die Beine zieht und anschließend zur Zigarettenschachtel greift. Viel Rauch um nichts. Die meisten Anrufer kommen nicht, und derjenige, der eine halbe Stunde später vor der Tür steht, geht gleich wieder. Vielleicht weil Maria ungeschminkt ist und bleich aussieht heute. Sie ist im sechsten Monat schwanger. In wenigen Wochen wird sie in die Mutterpause gehen.

Schlechtes Timing, aber was soll’s! Maria ist erst seit anderthalb Jahren im Geschäft und „hat noch ein ganzes Prostituiertenleben vor sich“. Sagt Biggi. Aber an den vollen Expojackpot glaubt auch Maria nicht mehr. „Die haben hier bis zu dreihunderttausend Besucher täglich erwartet. Und jetzt?“, fragt sie. „Vom Messegelände macht sich niemand auf den Weg zu uns in die Stadt. Wer Geld verdienen will, der muss sich dort rumtreiben.“ Ihr extra angemietetes Apartment hingegen liegt mitten im Sperrbezirk und Zentrum Hannovers am Steintor. 35 Minuten Direktverbindung mit der Straßenbahn zum Ausstellungsgelände. „Wir hatten uns so viel von unserer Wohnung versprochen, und es ist voll in die Hose gegangen“, zieht Biggi Bilanz. Sie müssen die vier Wände aufgeben. Ihre Einnahmen decken nicht einmal die Umkosten.

Früher hat Biggi locker zwanzigtausend Mark im Monat verdient. Aber es läuft nicht gut. Weder für sie und Maria noch für die anderen Prostituierten in Hannover. Und sie alle wissen auch warum: „Die Stadt ist randvoll.“ Und dabei denken Biggi und Maria nicht an die hunderttausend potentiellen Freier pro Tag, sondern an die mehr als tausend Sexarbeiterinnen, die seit dem vergangenen Jahr nach Hannover gekommen sind und hier ihre Liebesdienste anbieten. Nicht immer freiwillig, aber immer mehr.

Bereits 1996 richtete die Polizei Hannover speziell das Fachkommissariat „Milieu“ ein, unter anderem um den Handel mit Frauen vor allem aus Osteuropa zu unterbinden. Obwohl Kobra, die zentrale Koordinierungs- und Beratungsstelle für Opfer von Frauenhandel, eine Verdreifachung der Menschenhändlerprozesse seit Beginn des Jahres verzeichnet, wird bei der Polizei nur addiert: Nach letzten Schätzungen hat sich die Zahl der normalerweise rund 1.800 registrierten Prostituierten in der Stadt nahezu verdoppelt, sind zu den dreihundert so genannten „Modellwohnungen“ noch einmal hundert hinzugekommen, zu den vierzig größeren Bordellen mindestens zehn neue „Liegenschaften“. In der Bild-Zeitung kann man die schlüpfrigen Inserate unter der Rubrik „Hallo“ täglich lesen. Neben der täglichen Expostory die SExpo. Sex verkauft sich gut. Allein 2,2 Millionen Mark Gewinn im Monat macht Bild bundesweit mit solchen Anzeigen.

In den Bordellen am Steintor geht es um 14 Uhr zu wie im Supermarkt kurz vor Feierabend. Männer mit den Einkäufen fürs Wochenende in der einen Hand geben sich die Klinken bei den „Thai Girls“ oder im „Thai Eros“ im Reitwall in die andere Hand. Favoriten in den Plastiktüten sind Tiefkühlpizzen und Salatgurken. In den Gängen der Bordelle fällt die Wahl offensichtlich schwerer. Erstens ist nicht überall Thai drin, wo draußen Thai dransteht. Zweitens suchen sich auch die Prostituierten ihre Freier aus. „Türken sind das Letzte“, ist das unumstößliche Urteil der deutschen Frauen. Und von jenen sind um diese Zeit sehr viele unterwegs.

Aber die Betriebsamkeit täuscht. Auch im Karree von Reitwall, Marstall, Scholvin- und Goethestraße ist seit Jahresbeginn nicht viel los. „Das ist die Ruhe vor dem Sturm“, ist die 23-jährige Sibel in einem der Häuser in der Scholvinstraße noch immer zuversichtlich. Die schwarzhaarige junge Frau setzt ganz auf ihren „superschönen Busen“ über ihrem runden Bauch. An der Expo interessieren sie nur die vielen in Aussicht gestellten Freier und ihr Geld: „Hier ist doch 24 Stunden geöffnet. Irgendwann werden sich schon ein paar Männer hierher verirren.“ Achtzig Prozent der Freier sind schließlich Familienväter. Von denen gibt es eine Menge auf der Expo. Gelassen sitzt sie auf dem Barhocker vor ihrem Zimmer und quatscht mit den Neuzugängen auf dem Backsteinflur ihrer Etage. Janine ist zwanzig und seit sechs Monaten dabei, Gina 21 und seit Beginn der Expo nicht mehr Friseuse. Sie behauptet, hier viel mehr Kohle machen zu können.

Unten im Nebenhaus hat bereits die Nachtbar „Separée“ geöffnet. Drinnen ist alles so rot, roter geht es gar nicht. An einem der Tische im hinteren Barbereich sitzt ein feister, schwitzender Mann. Erregt verfolgt er ein kopulierendes Paar auf der Videoleinwand. Vor ihm steht eine Biertulpe, seine Hände stecken im Schoß unterm Tisch. An der Theke lehnt ein anderer Mann mit schwarzem Hut, der aussieht wie eine Mischung aus Charles Bronson in „Ein Mann sieht rot“ und einem der umtriebigen Zigeuner aus dem Film „Schwarze Katze, weißer Kater“. „Ich bin Diplombordellvolkswirt“, stellt er sich vor. An seinem Hosenbund schwenkt er einen derart dicken Schlüsselbund, als könnte er damit jedes Schloss im Quartier öffnen.

Kontrolliert wird das Revier von den Hell’s Angels und ihrem Präsidenten Frank Hanebuth, genannt Boxer-Frank. Ihm gehört ein Großteil der Häuser am Platz, ihn fragt man besser, wenn man Fragen an die Frauen hat. „Gesünder ist das“, bemerkt nett lächelnd einer der Hell’s im Mad House, ihrem Treffpunkt an der Ecke Scholvin-/Goethestraße. Aber so schlimm ist das gar nicht. Es ist wie mit dem Zahnarzt, der nicht bohren muss. Ein Anruf bei Hanebuth genügt: Der Exschwergewichtsprofi schwitzt im Sparring weiter, schickt aber seinen Kompagnon. Der sagt den Frauen: „Frank hat gesagt . . .“, und schon gehen die Türen auf. Und er informiert Carsten, der bei den „Thai Girls“ für Ordnung sorgt. Dessen Muskeln drohen zwar Jeans und T-Shirt zu sprengen, aber er ist fürsorglich wie eine Mutter. Mit bollernden Heizkörpern sorgt er das ganze Jahr für subtropisches Klima auf den mit bunten Leuchtstoffschläuchen blinkenden Etagen.

Überall duftet es süßlich. Und aus jedem Zimmer sollen kleine buddhistische Altäre die bösen Geister vertreiben und für reichen Geldsegen sorgen. In manchen wacht sogar der thailändische König über dem Bett. Die Thailänderinnen wissen noch nicht einmal, wie lange die Expo geht. Eine der Frauen möchte sich nur ungern fotografieren lassen: „Das ist doch Werbung für die Messe, da brauch’ man viel Busen.“ Ihrer ist sehr hübsch, aber klein. Und selbst hingehen? Das schließt Carsten aus. „Jetzt während der Expo haben wir hier rund um die Uhr zu tun.“ Die Thailänderinnen lächeln zustimmend.

Kriminalhauptkommissar Hage, der das Dezernat Milieu bei der Polizei Hannover leitet, stellt bereits Hochrechnungen an: „Da sind immense Umsätze zu erwarten. Nur mal grob gerechnet zum Vergleich: Die Expo hat 180 Tage, und – gehen wir mal von kleinen Zahlen aus – eine Frau verdient etwa 300 Mark am Tag und wir haben von ihnen 2.500 in der Stadt, dann kommen Sie auf eine Summe von 135 Millionen Mark!“ Dass die Frauen tatsächlich so viel verdienen werden, dafür spricht momentan nichts. Aber verdienen werden in diesem Stellenbereich in jedem Fall die Bordellbetreiber und Vermieter. Im Durchschnitt bezahlen die Frauen am Steintor pro Tag zweihundert Mark für ihr Zimmer. Die Wohnungsmieten liegen zwischen zweitausend und sechstausend Mark pro Monat. Nicht zu vergessen die Schleuser. Die lassen sich ihre Dienste mit fünfstelligen Beträgen bezahlen. Da kommt ein stattlicher Gewinn heraus, mit dem Birgit Breuel ihre gesamte Expofinanzierung sanieren könnte.

Für Dorothee Türnau von Phönix, der Anlauf- und Beratungsstelle für Prostituierte in Hannover, sind das alles nur Zahlenspiele. Einen wirklichen Überblick hat hier niemand mehr in der Stadt über Gewinne und Verluste, welche und wie viele Frauen sich tatsächlich prostituieren. „Ich finde den ganzen Bereich sehr undurchsichtig“, sagt die Sozialarbeiterin. „1.800 oder 2.500 Prostituierte in Hannover, das mag ja sein, aber die Dunkelziffer ist viel, viel höher. Da gibt es die ganzen Gelegenheitsprostituierten. Oder, was jetzt neu ist auf dem Straßenstrich, sind die vielen jungen Mädchen, die auf Designerklamotten stehen. Die nehmen die erstbesten Freier und sind dann wieder weg.“

Abends um 22 Uhr ist auf dem Straßenstrich auf der anderen Seite des Steintorplatzes reger Verkehr. So viel Verkehr, dass es von den Anwohnern regelmäßig Beschwerdebriefe bei der Stadtverwaltung hagelt. Dennoch haben die Frauen unten auf der Straße kaum Verkehr. Der 27-jährigen, molligen Jennifer, die in hohen Lackstiefeln, schwarzen Hotpants und mit ihrer blonden Mähne auf einer kleinen Steinmauer hockt, fällt zur Expo nur eins ein: „Die ist total geschäftsschädigend. Siehst’ ja, hier läuft nichts.“ Wie man’s nimmt, zumindest der Autoverkehr rollt im Stop-and-Go vorbei. Aber es ist wie mit den Anrufern bei Biggi und Maria und den Gurkenträgern in den Bordellen. „Die Stammfreier bleiben weg, weil sie denken, hier ist der Bär los. Es kommen nur noch die, die es ganz billig, für dreißig Mark haben wollen. Die kratzen sich, wenn es sein muss, die Drogis von der Straße“, erklärt Jennifer die nächtliche Rushhour.

Auch sie spürt, dass immer mehr Frauen aus Osteuropa kommen. „Das meiste läuft bei denen in Wohnungen ab, weil sie ja illegal hier sind, aber hier stehen jetzt auch schon sechs Tschechinnen.“ Und die drücken neben den Drogenabhängigen die Preise. Sie machen alles, auch ohne Gummi und billig. Kein Wunder, dass die Freier und Zuhälter alle nur noch „her mit den kleinen Osteuropäerinnen“ schreien. Die halten den Mund, reden nicht mit anderen Frauen, nicht übers Geschäft und auch nicht über die Expo. Und wenn doch mal, wie unlängst, welche gegen ihre Schlepper aussagen und ein Ring hochgeht, rollt der Nachschub längst über die Grenze. Auch die 35-jährige Mona aus Ostdeutschland, die sich mit Denise und zwei anderen Frauen eine Wohnung in der Nordstadt gemietet hat, kann ein Lied davon singen: „Es sind viel zu viele Frauen in der Stadt, und die machen die Preise kaputt. ‚Alles zum halben Preis!‘, hieß es neulich in einem Inserat.“

Mona ist so dünn und zart, als hätte sie schon nicht mehr genug Geld zum Essen. Aber es ist eher der neue Job der ehemaligen Maler- und Tapeziererin, der sie bis in die Träume verfolgt und am Körper nagt. Auf dem Teppich ihres Zimmers liegt einer ihrer künstlichen Fingernägel. Ein roter mit einem weißen Herz drauf. Auf dem Nachtisch neben dem Bett steht eine volle Schale mit Kondomen und eine Flasche Babyöl. „Bei uns gibt es nicht nur mal schnell rein und raus. Die Männer sollen sich hier wohlfühlen“, sagt sie. Sichtlich bemüht. Erst als sie an die Expo denkt, leuchten ihre Augen kurz auf wie bei einem aufgeregten Kind: „Da muss man sich doch einfach für interessieren. Ich möchte auf jeden Fall dieses Haus aus dem Nepal sehen, an dem achthundert Familien geschnitzt haben.“ Vorläufig fragt sie per Anzeige: „Miep, miep, miep, hat mich gar keiner lieb?“

Die Expo hat keine Antwort für sie. Liebe und Sexualität spielen dort im Themenpark zu Natur, Mensch und Technik absolut keine Rolle. Das 21. Jahrhundert ist nach den Vorstellungen der Macher ein sexfreies. Und das, obwohl das älteste Gewerbe der Welt bisher noch jede Evolution der Menschheit überlebt hat. Wenn auch nicht, ohne sich zu verändern. Noch vor 150 Jahren waren es vor allem deutsche und skandinavische junge Frauen, die mit Hausmädchenstellen wegen ihrer weißen Haut als Exotinnen in die Puffs des Orients und der reichen Überseekolonien gelockt wurden. Damals machten christliche und jüdische Frauenvereine mobil gegen den Frauenhandel. Heute verteilt Kobra in Polen, Weißrussland, der Ukraine und der Tschechischen Republik eine Broschüre, die die Frauen vor falschen Jobangeboten warnt. Und auch sonst hat sich das Rad des Gewerbes weiter gedreht. „Was die Männer heute alles wollen, da kommst du nicht mehr mit“, fasst Biggi zwei Jahrzehnte gelebte Prostitution zusammen.

Zur späten Stunde sitzt Tami in einem der etwa vierzig Schaufenster in der Ludwigstraße, Hannovers Sperrlichtmeile hinterm Hauptbahnhof, auf dem Präsentierteller: „Ich weiß auch nicht, warum das Geschäft nicht läuft.“ Mit ihren langen, glatten, schwarzen Zöpfen sieht die 29-Jährige unterm Rotlicht ihres Fensters aus wie ein nur spärlich bekleidetes Rotkäppchen. Unschuldig und ahnungslos. In einem anderen Fenster stehen vier leere Stühle im Dunkeln, ein paar Fenster weiter saugt eine Putzfrau den Teppich. Als wäre die rauschende Party längst vorüber, die eigentlich auf ihrem Höhepunkt sein sollte.

PETRA WELZEL, 35, Exhannoveranerin, lebt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin