Verschärfte Versackung

Wahre Lokale (18): Im Frankfurter Nordend bietet das „Horizont“ nachtaktiven Sporttrinkern und tobenden Sperrstundenverkürzern eine sichere Heimstatt

Ein kugelrunder polnischer Dokumentarfilmer, eine virtuell aktive Silberschmiedin, eine Männer mordende Buchladenbetreiberin, ein stillgelegter grüner Bundestagsabgeordneter, die komplette Redaktion des Faktenmagazins Titanic nebst Gründungsmitgliedern, eine Sinologin mit Bankgeheimnis, ein angeblich durch den Verkauf von Stühlen zum Millionär gewordener Hanfzüchter, dazu dessen breitgeschmauchte Tischgesellschaft, zwei fränkische Witzezeichner glasigen Aug’s, ein runder Schwulenstammtisch, eventuell auch einer für Lesben, einige Dauerstudenten, Endlosraucher und Wenigtelefonierer, ein grölender Rundfunkfritze und zwei Radfahrer – alles Menschen, deren Gesellschaft man auf keinen Fall suchen, geschweige denn ertragen möchte. Schon gar nicht des Abends.

Am besten weiß dies Cherif Bouzenna, der amtierende Wirt der Gastwirtschaft „Horizont“, weshalb er diese und auch andere Gäste regelmäßig in seiner geräumigen, gut einsehbaren Eck-Spelunke interniert. So ist die Welt vor ihnen sicher, und die Gäste sind’s zufrieden.

Schließlich waren es namhafte und heute noch nicht trockene Stammgäste, die den kochfaulen Ex-Tunesier vor gut zwanzig Jahren zwangen, das leer stehende Etablissement im Frankfurter Nordend zur verschärften Versackung zu eröffnen und freizugeben. Lange Jahre fühlte sich dieses Rudel nachtaktiver Sporttrinker in der am Oeder Weg gelegenen Wirtschaft eines gewissen Vater-Sohn-Duos namens H. Mentz bestens aufgehoben und versorgt (Eckhard Henscheids historischer Roman aus dem Jahr 1972 „Die Vollidioten“ gibt davon gern Zeugnis). Nach dem Fall dieser Saufbastion gab man sich, behutsam nach Osten vorstoßend, in die Obhut des berüchtigten „Pizza-Peter“ in der Glauburgstraße und endete schließlich unweit, Ecke Friedberger Landstraße und Egenolffstraße, wo Bouzenna sein „Maison du Cous-Cous“ (Eigenwerbung) bis heute betreibt.

Vom ersten Tage konnte er sich der moralischen und finanziellen Unterstützung seiner Auftraggeber durch engagiertes Kommen und Konsumieren gewiss sein. Heute wird zwar auch noch gekommen, das mit dem Konsumieren aber nur noch zähneknirschend betrieben. Endgültig dahin sind die Zeiten des legendären französischen Kochs Renaud, der die darob verblüfften Gäste auf Zweieinhalb-Sterne-Niveau bekochte, damit aber – und vor allem mit seinem allabendlichen persönlichen Gästebegrüßen! – dem Wirt die Show stahl. Was dieser sich nicht bieten ließ und den so formidabel sättigenden Franzmann umgehend an die Luft setzte.

Heute hat sich die Küche auf eine weitestgehend sättigende und möglichst nicht gesundheitsschädigende Abspeisung der Gäste verständigt. Höchste Sorgfalt verwendet der Chef und selbst ernannte Cous-Cous-König nur noch auf die in seinem Hause verzehrten Rauchwaren, die er, so weit er ihrer habhaft werden kann, sofort konfisziert und vor den Augen der verdutzten Gäste einer intensiven und langwierigen Qualitätskontrolle durch Tiefeninhalation unterzieht.

Nun, da die Tage wärmer und die Abende heller werden, haust der (laut Eigenwerbung) „Sheriff“ nur mehr selten in seiner normalerweise so zwischen ein und zwei Uhr schließenden Kneipe. Er flieht in den nahe gelegenen Günthersburgpark, wo er in einer Art griechisch-arabischem Drittwelt-Kiosk ein leicht überschaubares Angebot feilhält.

Dort, in sicherer Entfernung, herrschen angenehme Temperaturen und trügerischer Frieden – vor hungrigen Gästen einerseits, vor Achim Greser andererseits, dem im gesamten Rhein-Main-Gebiet und weit darüber hinaus mit Fug und Recht gefürchtetsten Sperrstundenverkürzer. Der bedenklich rothaarige Franke versteht fast alles, aber keine Zahlen zwischen eins und zwei. Wer als Gastwirt wöchentlich mehr als einmal gegen den im Durstfieber so furchtbar wütenden, bis zum Tagesanbruch tobenden, drohenden, klagenden, heulenden, trotzenden und tosenden Pilsbierfreund zu kämpfen hat, ist schon nach kurzer Zeit zumindest nervlich ein Totalsanierungsfall.

Wenn Sie also zufällig im Frankfurter Nordend unterwegs sind und Ihnen schon von fern her charakteristische Lautfolgen wie „rappelköpfig“, „Schlappeflicker“, „Tagdieb“ oder „Kaschperkopf“ entgegendröhnen, ist ein „Horizont“-Besuch unbedingt angezeigt. Nur wer auch reingeht, kann ausnahmsweise länger drinbleiben.

OLIVER MARIA SCHMITT

Hinweis:Höchste Sorgfalt verwendet der Chef auf die Rauchwaren, die er sofort konfisziert und einer intensiven Qualitätskontrolle durch Tiefeninhalation unterzieht