Kein Kniefall vor dem Kniefall

Gerhard Rosenfeld war bisher ein wenig bekannter Ost-Komponist und zu DDR-Zeiten als „Nonkonformist“ an den Rand gedrängt. Morgen wird in Dortmund vor viel Prominenz seine Oper über Willy Brandts Leben uraufgeführt  ■ Von Ute Scheub

Der eine war ein bekannter Mann, und sein Kniefall machte ihn weltberühmt. Der andere ist bis heute ziemlich unbekannt, aber daß er das Leben des einen vertonte, dürfte ihn ebenfalls über Nacht berühmt machen. Fortissimo! Morgen abend wird Gerhard Rosenfelds Oper „Kniefall in Warschau“ im Dortmunder Opernhaus Premiere haben: drei Kilogramm Partitur, vierhundert Seiten Noten, dreizehn Monate Arbeit. Die Lebensgeschichte Willy Brandts in neun Szenen, vom norwegischen Exil bis zum Kanzlersturz – und gleich zu Beginn wird das Orchester in die Vollen gehen.

Auf den Ehrenplätzen: Hans- Jürgen Wischnewski, Annemarie Renger, Otto Schily, Inge Wettig- Danielmeier, Walter Momper und weitere 200 PolitikerInnen – das halbe Bonner Parlament. Wird sich Egon Bahr in der Loge in Egon Bahr auf der Bühne wiedererkennen? Wird Horst Ehmke den zürnenden Baß von Herbert Wehner belächeln können? Wird Manfred Lahnstein schmunzeln, wenn sich Rainer Barzel in einer Szene im Herrenklo des Bundestags wiederfindet? Wird Brigitte Seebacher-Brandt – kein Sopran, keine Rolle, keine Ehrenloge – erneut bis in die Ewigkeit schmollen, wie man mit dem Andenken ihres Mannes umspringt?

Auch der Komponist wird anwesend sein. Und zittern.

Piano. „Wenn ein Stück von mir das erste Mal aufgeführt wird, ist das wie eine Entblößung vor allen Menschen“, bekennt der 66jährige Potsdamer, dessen Werke in der DDR wenig aufgeführt wurden, weil sie in den Ohren der SED- Bonzokratie „nicht optimistisch genug“ klangen. Der Komponist weiß: Die Proben liefen gut, dem Emsemble machten sie Spaß, der Öffentlichkeit wurde ein unterhaltsames, gar ein „magisches Stück“ angekündigt. Und dennoch: Zum üblichen Lampenfieber wird sich diesmal eine besondere Angst hinzugesellen – die vor Lächerlichkeit. Gerhard Rosenfeld ist nur für die Musik verantwortlich; für die Idee und die Inszenierung steht der Dortmunder Generalintendant John Dew, bekannt geworden durch gewagte Musiktheater-Inszenierungen. Aber auch Rosenfeld weiß genau um die Tücke des Genres. Eine Politoper! Ein tänzelnder Willy Brandt, ein singender Franz-Josef Strauß, Wehners Fiesigkeit in Fis, und die Ostverträge im Viervierteltakt: Gewollte Komik kann schnell in ungewollte Lächerlichkeit umschlagen. Auch andere Versuche, die Banalität zeitgenössischer Politik in einen Operntempel zu verpflanzen, sind bös gescheitert, das weiß er. Ob nun „Nixon in China“ oder „Gorbatschow“, nein, „das war alles nix“.

Ganz still wird Gerhard Rosenfeld auf seinem Ehrenplatz sitzen. Und den eigenen Tönen lauschen. Brandt als Bariton, Brandt als Cello-Einlage. Vielleicht wird er sich Gedanken machen, ob die vielfältigen Versuche der Entkitschung gelungen sind. Zum Beispiel der Einfall des erst 26jährigen Librettisten Philipp Kochheim, die Hauptperson in vier verschiedene Figuren aufzusplitten. Brandt, der Widerstandskämpfer und Weinliebhaber, der Friedensnobelpreisträger und Frauenheld, er war schließlich auch im Leben eine ambivalente, eine vielgestaltige Figur. Oder Rosenfelds eigene Idee, während Brandts stummem Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos auch das Orchester schweigen zu lassen. Auf dem Höhepunkt des Stückes: Stille. Nach und nach setzen die Instrumente wieder ein. Pianissimo. Brandt erhebt sich.

Rosenfeld hat sich die historische Szene immer und immer wieder in einer Videodokumention angesehen. Und er ist sich „ganz sicher: Das war spontan. Nicht geplant und nicht verabredet. Das sieht man.“ Daß ausgerechnet ein früherer Widerstandskämpfer in die Knie fiel, das ringt ihm Bewunderung ab.

Dennoch geht es ihm nicht darum, Willy Brandt „auf einen Sockel zu heben“. Heldenverehrung, Glanz und Gloria, davon gab es schon in der DDR zuviel für den Einzelgänger, der seit 1964 zurückgezogen in einem Landhäuschen in Bergholz-Rehbrücke bei Potsdam wohnt. Intendant John Dew habe einen Komponisten aus der DDR haben wollen, weil dann „der Blickpunkt abständiger“ sei, erzählt Rosenfeld in seinem dunklen, mit Teppichen dick ausgelegten Wohnzimmer, in dem neben dem Steinway-Flügel und den herabhängenden Glöckchen und Zimbeln vor allem die vielen Bücher auffallen: Kunst, Musik, Philosophie, Literatur. In Vorbereitung des Stücks habe er allerlei Brandt- Biographien gewälzt und mit Überraschung festgestellt, daß dieser „kein Kanzler zum Anfassen war“. Willy Brandt sei eine recht komplizierte Persönlichkeit gewesen, emotional, verletzlich, dünnhäutig, grüblerisch, vielleicht auch „sehr einsam“. Die Sätze klingen ein wenig, als ob Gerhard Rosenfeld von sich selbst spräche.

Nein, ein Kniefall vor dem Kniefall ist seine Sache nicht. „Mir ist einer viel sympathischer, der auch mal einen sitzen hat, statt immer nur korrekt zu sein.“ Er lacht, und seine jungenhaften Gesichtszüge mit den großen Augen hinter der Brille werden noch weicher. Da schwingt leise etwas mit von der unerfüllten Sehnsucht, sich selbst gehen lassen zu können. Andante, ma non troppo. Gerhard Rosenfeld kam zu den Tönen, weil er so ein Stiller war. Als einziges Kind einfacher Leute 1931 in Königsberg geboren, war seine Kindheit vom Krieg geprägt, mit 13 Jahren durchfuhr er als Flüchtling und Schiffspassagier die Treibminen auf der Ostsee, schlug sich zunächst allein zu seinen Verwandten in Bergholz-Rehbrücke durch. Der schüchterne Junge hatte in Musik immer eine Fünf, weil er nicht vorsingen konnte. Eigentlich wollte er damals Bühnenbildner werden, weil er „auch ein bißchen“ zeichnen konnte. Bis ihn eine Musiklehrerin in seiner Oberschule entdeckte, ihn in sämtliche verfügbaren Konzerte trieb und ihm befahl: „Du machst Schulmusik.“

Er wurde dann doch nicht Musiklehrer in einer Schule, sondern studierte ab 1954 Komposition bei Rudolf Wagner-Regeny und ab 1958 als Meisterschüler bei Hanns Eisler und Leo Spies. 1964, nach einer umjubelten Aufführung seines erstes Violinkonzertes, ließ er sich als freischaffender Künstler nieder. Doch trotz seiner 55 Orchester- und Vokalwerke, trotz seiner zahlreichen Filmmusiken war ihm in der DDR kein durchschlagender Erfolg beschieden.

Seine filigran gearbeitete, transparente, bisweilen recht dissonante Musik, irgendwo zwischen zärtlich und zornig, zwischen Hindemith und Henze und trotzdem ganz eigen, strahle „das Lebensgefühl der DDR nicht aus“, mußte er sich anhören. Auf einer Sitzung des Komponistenverbandes wurde er als „klassenfeindlich“ gegeißelt. Er galt als „Eigenbrötler“ und „Sonderling“, „Nonkonformist“ und „Miesepeter“. So einer war für die Partei nicht zu gebrauchen. Vieles von ihm wurde nicht aufgeführt, anderes, das aufgeführt wurde, wurde ignoriert. Zum Beispiel das „Friedensgloria“, das mit dem linientreuen Friedensgesäusel wenig gemein hatte: „Keiner soll über einen herrschen, keiner soll sich einem unterwerfen“, schallte es 1985 im Schauspielhaus Berlin, aber nicht darüber hinaus. Was Willy Brandt groß machte, hielt Gerhard Rosenfeld klein: die Mauer.

Rosenfeld sehnte sich an andere, wärmere Orte: vor allem nach Italien. Der italienischen Sprache, der umbrischen Landschaft gilt noch heute seine Leidenschaft. Italien, das Sinnbild für Temperament und Ausbruch, Genuß und Sinnenfreude, das gelobte Land für so viele, darunter vielleicht auch Gerhard Rosenfeld, die unter ihrer Kontrolliertheit leiden. Dem DDR-Bürger blieb das echte Italien verwehrt, aber dem Musiker blieb der Umweg über die Oper – die italienischste aller Musikgattungen.

Schon vor dem „Kniefall in Warschau“ hatte er zusammen mit seinem Librettisten Gerhard Hartmann fünf Opern geschrieben: „Das alltägliche Wunder“, „Das Spiel von Liebe und Zufall“, „Friedrich und Montezuma“ und gleich zwei nach Texten von Nikolai Gogol: „Der Mantel“ und „Die Verweigerung“. Beide Opern kreisen burlesk und tragikomisch darum, wie seelenlose Bürokratie Menschen vernichten kann, und beide Stücke fanden begeisterten Beifall: ersteres noch zu DDR-Zeiten in Weimar, letzteres 1996 in Hamburg. „Musiktheater vom Feinsten“, eine „kraftvolle Partitur“, „Spielwitz und Phantasie“, schwärmte damals die Presse.

Werden sie auch jetzt wieder schwärmen? Oder werden sie ihn in Stücke reißen? Gerhard Rosenfeld wird sich auf seinem Ehrenplatz vielleicht an seine Lieblingsautoren erinnern, die in seinem Haus die Bücherregale bevölkern: Böll, Bloch, Sartre, Camus, Ghandi. Für ihn repräsentieren sie „Wahrhaftigkeit“, die vor Moden und Mätzchen, Gehabe und Getue schützt. Auch Brandt habe „Wahrhaftigkeit vermittelt, soweit das ein Politiker überhaupt kann“.

Also: Piano. Pianissimo. Wenn sie das Werk zerreißen, dann wird das weh tun. Aber dann wird Gerhard Rosenfeld wieder nach Hause fahren, nach Rehbrücke. Und wird an seinem alten Steinway neue Musik erfinden.