Das Portrait
: Staatspräsident ohne Kaste

■ Kocheril Raman Narayanan

Als Schulkind im indischen Staat Kerala mußte Kocheril Raman Narayanan oft dem Unterricht aus einem Versteck lauschen. Seine Eltern konnten das Schulgeld nicht bezahlen. Sein Vater war Ayurveda-Heiler, was bedeutete, daß Kocheril der niedrigsten Stufe des Kastensystems angehörte und als sogenannter Unberührbarer düstere Zukunftsaussichten hatte. Dennoch hat sich das Zuhören für den heute 76jährigen ausgezahlt: Ihm steht nichts im Weg, heute Indiens erster „unberührbarer“ Präsident zu werden.

Am Montag fand die Wahl zum indischen Staatsoberhaupt statt, bei der Narayanan, der jetzige Vizepräsident, der Favorit war. Weil das Wahlgremium aus Abgeordneten von beiden Kammern des Unionsparlaments und den Mitgliedern der Vertretungen aller Teilstaaten besteht, kann das Ergebnis des Votums erst heute bekanntgegeben werden. Dennoch steht Narayanans Sieg außer Frage: Fast 90 Prozent der 4.848 Wahlmänner gehören zu Parteien, die ihn unterstützen.

Am 27. Oktober 1920 wurde Narayanan in Uzhavoor geboren. Obwohl er die angesehene London School of Economics absolvierte, bekam er seine Gesellschaftsrolle als Dalit zu spüren. „Ich habe mir eine dicke Haut zugelegt“, meint er. In den diplomatischen Dienst wurde Narayanan 1949 vom ersten indischen Premier, Jawaharlal Nehru, geholt. 1984 stieg er in das politische Leben Indiens ein. Seitdem wurde er dreimal ins Unterhaus des Parlaments gewählt und war Minister im Kabinett von Rajiv Gandhi. Die Stelle des Vizepräsidenten trat er 1992 an, als Shankar Dayal Sharmar, der scheidende Staatschef, gewählt wurde.

Obwohl im indischen Regierungssystem der Premier die Regierungsgeschäfte führt, gewinnt die Rolle des Präsidenten zunehmend an Bedeutung. Die knappen Mehrheitsverhältnisse im Parlament in den letzten Jahren haben Sharmar mehrmals gezwungen, eine Koalitionsregierung zu ernennen. Außerdem wird Narayanan Oberbefehlshaber der Streitkräfte, was sich im angespannten indischen Subkontinent als eine wichtige Nebenrolle erweisen könnte. Aber auch als reine Staatsfigur zeigt der „Unberührbare“, der am 25. Juli in den Präsidentenpalast einziehen wird, wie weit die meistbewohnte Demokratie der Welt in den 50 Jahren ihrer Existenz gekommen ist. Dušan Stojković