Aber die Politik machen die anderen

Wie geht es Arbeitslosen, wie schafft man Arbeitsplätze? Die Bundesanstalt für Arbeit hat heute andere Fragen an ihre Forscher als zu Zeiten der Vollbeschäftigung. Werner Karr war von Anfang an dabei  ■ Von Bernd Siegler

Wenn Werner Karr aus seinem Bürofenster blickt, ist er nah am Objekt. Im Haus gegenüber sitzen die Monteure vom Quelle-Kundendienst. Früher sah er sie noch ab und zu während der Arbeitszeit einen kleinen Plausch machen, heute schrauben sie wie im Akkord, „fleißig wie die Bienen“. Unten im Hof kann Werner Karr dann direkt die Konjunktur ablesen. Der kunststoffverarbeitende Betrieb dort ist Zulieferer für die Autoindustrie. Sind die Zeiten gut, dann fahren die Lieferfahrzeuge ein und aus. Zur Zeit ist Ruhe im Hof.

„Fühlungsvorteil“ nennt Werner Karr dieses Ambiente. Der 59jährige ist Bereichsleiter für Statistik, internationale und regionale Arbeitsmarktforschung am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In dem direkt der Bundesanstalt für Arbeit (BA) angegliederten Institut ist Karr der Mann der ersten Stunde. Nur eine Sekretärin war damals, im Mai 1967, schon dabei, als die Denkfabrik der Bundesanstalt ihre Arbeit mit zwei Wissenschaftlern aufnahm.

Heute arbeiten 120 Menschen in der „ersten Adresse der Arbeitsmarktforschung“, wie BA-Präsident Bernhard Jagoda das Institut nennt. Mit einem Etat von etwa 15 Millionen Mark erforschen die IAB-Wissenschaftler die Entwicklung des Arbeitsmarkts und mögliche Perspektiven. In kleinen Zimmerchen an den langen Gängen der denkmalgeschützten ehemaligen Schuhfabrik im Süden Nürnbergs überprüfen sie die Wirksamkeit von Umschulungen oder lassen Modellrechnungen über ihre Computer laufen, um Strategien für mehr Beschäftigung zu testen. Eine Aufgabe, die Werner Karr vor 30 Jahren noch völlig fremd war.

Damals, als man das IAB konzipierte, herrschte Vollbeschäftigung im Land, zu Tausenden wurden Gastarbeiter angeworben. „Ein weiteres Wachstum schien nurmehr über eine Steigerung der Produktivität möglich“, erinnert sich Karr. Auf großen Kongressen diskutierten die Gewerkschaften die sozialen Auswirkungen des technischen Fortschritts. „Automation – unsere Aufgabe“ lautete der Titel eines Symposiums der Arbeitgeberverbände. Das IAB beschäftigte sich intensiv mit der Frage, wie man die Menschen für die entstehenden hochqualifizierten Arbeitsplätze weiterbilden könnte.

Heute haftet Fortbildung und Umschulung eher der Ruch eines Auffangbeckens für Arbeitslose an. Bei knapp fünf Millionen Menschen ohne Arbeitsplatz konzentriert sich die Nürnberger Denkfabrik nun auf die Frage, wie man neue Arbeitsplätze schaffen kann und wie aktive Arbeitsmarktpolitik die Chance des einzelnen in der langen Warteschlange erhöhen kann. „Das ist eine völlig andere Denkweise“, schüttelt Karr den Kopf. Er kann es noch gar nicht so richtig glauben. Erst im Rückblick wird ihm klar, wie sich die Situation ins Gegenteil verkehrt hat.

Nicht nur der Blick aus dem Fenster gibt Karr den „Fühlungsvorteil“. Auch seine Biographie. Als 14jähriger ging er ohne Schulabschluß in Heilbronn als Gleisbauer zur Bundesbahn. Tagaus, tagein, bei jedem Wetter – Schwerstarbeit. Drei Jahre später stellte er sich die Frage, ob es das schon gewesen sei. Und kündigte. Auf einem Abendgymnasium in Stuttgart holte er das Abitur nach, den Lebensunterhalt verdiente er sich tagsüber als Bürohilfskraft. Dann ging's an die Freie Universität nach Berlin. 1967 war Karr mit dem Studium fertig. Die ersten Anzeichen der 68er Aufbruchstimmung bekam er gerade noch mit, Hierarchien wurden in Frage gestellt, die Umgangsformen lockerer, Schlips und Kragen entbehrlicher.

Der frischgebackene Ökonom schlug lukrative Angebote aus der Privatwirtschaft aus. 1.800 Mark monatlich, „damals ein Traumgehalt“, ließ er links liegen. Statt dessen folgte er dem Betriebswirtschaftsprofessor Dieter Mertens zum IAB. Dort sollte in einer engen Zusammenarbeit von Volks- und Betriebswirten, Statistikern und Soziologen „der Gedanke der Aufklärungspflicht der Wissenschaft“ verwirklicht werden, so Gründungsvater Mertens. Heutzutage sind beim IAB auch Psychologen dabei. Die erforschen nun die individuellen Auswirkungen und Bewältigungsstrategien der Arbeitslosigkeit.

Zur Anfangszeit hatte das IAB dank der vielen Studienabsolventen aus Berlin noch einen linken Ruf. Auch das ist heute anders. Vom Neoklassiker bis zum Keynesianer ist die ganze Bandbreite der Volkswirtschaftslehre vertreten. Geblieben ist das Dilemma der Forschung. „Wir können nur aufzeigen, erklären, Vorlagen geben. Aber die Politik, die machen die anderen“, betont Karr.

In der Rezession 1967 errechnete das IAB noch Konjunkturprogramme, die umgesetzt wurden und sofort Erfolg zeigten. Doch die Zeiten des „fast kindergläubigen Optimismus“, daß alles machbar sei, sind längst vorbei. Auch die aktuellen IAB-Berechnungen, wonach vermehrte öffentliche Investitionen den rigiden Sparkurs ablösen sollten, stoßen bei der Regierung nicht gerade auf offene Ohren. „Wir sitzen eben in der Maastricht-Falle“, wehrt Karr ab. Er weiß, daß jedes Sparen „nur mehr neue Einnahmeausfälle und damit neue Schulden bewirkt“, hat sich aber längst mit seiner Rolle als Wissenschaftler abgefunden: „Wir sind eben oft nur die Mahner in der Wüste.“

Über 100 Veröffentlichungen gibt das IAB pro Jahr heraus. Die Titel reichen von „Abbau individueller Arbeitslosigkeit durch berufliche Weiterbildung“ über „Küstenregionen im Strukturwandel“ bis hin zu „Weibliche familiale Arbeit und männliche Dauerarbeitslosigkeit im Arbeitermilieu“ oder, im Untertitel ganz umgangssprachlich: „Des werd hart für a Frau, wenn der Mo sei Stell verliert“.

Zu eigenen Studien dieser Art kommt Karr heute kaum mehr. Das bedauert er sehr: „Das hektische Tagesgeschäft läßt einem keine Ruhe.“ Den ganzen Tag klingelt das Telefon. Hier ein kurzes Interview, da eine Nachfrage nach der aktuellen Teilzeitquote in den Niederlanden oder eine Kurzzusammenfassung von Beschäftigungsinitiativen in der Schweiz. „Es gibt Wochen, da bin ich fast nie am Schreibtisch“, klagt Karr. Das holt er dann oft am Wochenende nach. Ein Workaholic ist er jedoch nicht, auch wenn er regelmäßig erschrickt, wenn er von seiner Stechuhrkarte die Zahl der verfallenen Überstunden abliest.

Erschrocken reagiert Karr auch auf die Rekordzahlen von Arbeitslosen. Neben großformatigen Fotos, die das verschneite Venedig im Weichzeichner zeigen, hängt hinter seinem Schreibtisch die Fieberkurve der Arbeitslosigkeit. Die erste Million in Westdeutschland ist dort für den Januar 1975 verzeichnet, die zweite für den Januar 1983. Die dritte mit 3,27 Millionen in den alten Bundesländern im Januar 1997 jedoch fehlt. Karr müßte ankleben: Bei der Drei-Millionen-Linie am oberen Rand ist das Plakat zu Ende.

Für den Arbeitsmarktforscher Karr ist es ein Wunder, daß bei 4,7 Millionen Menschen ohne Job in ganz Deutschland „alles noch verhältnismäßig ruhig“ sei, trotz der spürbaren Grundstimmung von Unzufriedenheit. Die jüngsten Proteste in den Branchen Stahl, Bau und Kohle wertet Karr einerseits als Ventil dieser Unzufriedenheit, andererseits aber auch als „Möglichkeit“ für die Beschäftigten, „über Kompromisse etwas zu erreichen“. „Auf eine Seite schlagen“, fügt er schnell hinzu, wolle er sich „als Angestellter einer Behörde“ allerdings nicht.

Einen Grund für die Duldsamkeit der Arbeitslosen sieht Karr auch in deren Vereinzelung. „Heute wird jeder einzeln ins Arbeitsamt beordert, das Arbeitslosengeld wird regelmäßig aufs Konto überwiesen.“ Und früher? Früher hätten sich die Arbeitslosen eben noch jeden Tag an der Stempelbude getroffen, um sich das Geld abzuholen, hätten sich ihr Leid geklagt und eher mal Strategien zum Widerstand gesucht.

Um die hohe Arbeitslosigkeit möglichst schnell zu verringern, plädiert Karr im Einklang mit allen IAB-Studien dafür, mehr Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen und die Lebensarbeitszeit zu verkürzen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Da das Rentenalter heraufgesetzt wurde, muß nun auch der Arbeitsmarktforscher ein Jahr anhängen. Erst mit 64 ist für ihn Schluß. Dann will er ein Buch schreiben – über den Arbeitsmarkt, versteht sich. „Einfach die Tür zumachen und das war's“, das könne er nicht.

Seine eigene Arbeitsfreude hindert ihn jedoch nicht daran, die Folgen zu beklagen: „Wir sind schrecklich überaltert.“ Die Arbeitszeitverlängerung verhindere zusätzlich den Generationswechsel im Institut. Da mal schnell eine Berechnung fürs Ministerium, da eine Simulation für die Bundesanstalt oder eine Schätzung für die Bundesregierung – solche Ruck- zuck-Aufträge verhinderten, daß die IAB-Forscher auf dem aktuellen Stand bleiben. Den könnten nur Universitätsabsolventen einbringen, die mit neuen Methoden vertraut seien. Für die sind jedoch kaum Stellen frei.

Mit diesem „Spagat“, einerseits an der Front der Wissenschaft zu stehen, andererseits alle praktischen Erfordernisse zu beachten, wird das Institut weiterhin leben müssen. „Die Praxisorientierung verhindert, daß wir hier im Elfenbeinturm sitzen“, gewinnt Karr der Situation auch etwas Gutes ab. Mit seiner damaligen Entscheidung, nicht in die Privatwirtschaft zu gehen, ist er sehr zufrieden. Ihm gefällt es, „am Puls der Zeit“ zu sein: „Wir wissen oft schon vorher, was in der Politik läuft.“

Manches davon kann der 59jährige jedoch nur noch mit Humor ertragen. So hört er gerade jetzt hochrangige Politiker laut verkünden, daß die Wende am Arbeitsmarkt im Mai erwartet werde. Da kann Werner Karr nur lachen. „Ja, ja, im Mai ist der Winter vorbei, das ist eine alte Bauernregel.“ Der Winter sei dann zwar vorbei und die Arbeitslosigkeit werde wie jedes Jahr im Frühjahr etwas zurückgehen.

Aber eine grundsätzliche Wende auf dem Arbeitsmarkt wird der Arbeitsmarktforscher Karr bis zu seiner Pensionierung wohl nicht mehr erleben.