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: Lebe wild und gefährlich: Lou Reed kommt ins Tempodrom

Okay, von der Popmusik für das Leben lernen, nach dem Springsteen-Diktum we learned more from a three minute record, baby, than we would ever learn at school. Lou Reeds neues Album „Set the twilight reeling“ wimmelt von solchen Gebrauchsanweisungen, zum Beispiel für das Ende der Liebe: „Zwinker mit den Augen, und ich bin weg“ (O-Ton des deutschen Limited-Edition-CD-Booklets). Genau so wollte man sich ja auch immer verhalten, aber irgendwie hat es nie geklappt. Denn das Leben ist nach wie vor kein Lou-Reed- Song, aber danke für das Rollenmodell, und wir arbeiten daran.

Über Ostern bereits gastierte Lou in Hamburg, und als er dann endlich auf die Bühne des Dock's kam, war das natürlich nicht zum Lachen. Lou mit bewährter Kamikaze-Coolness und notorisch präsentierter, dafür aber auch gut ausgebildeter Oberarmmuskulatur – und es geht los: „Sweet Jane“, „Vicious“, „New Sensations“, „Sex with your parents“, „Hooky Wooky“, das alles mit einer eisern durchgehaltenen Ernsthaftigkeit präsentiert, die jeden Verarschungsversuch von vornherein exekutiert. Ja, dieser Mann ist gefährlich! Er hat es erlebt und überlebt. Sein Leben in New York hat Spuren hinterlassen, die sich bereits in kleinen Rolling Stone-Anekdoten erahnen lassen – daß Lou beispielsweise inzwischen nicht einmal mehr Kaffee trinken darf, da ihn das Koffein sofort verrückt machen würde. Im Gegensatz zu dieser Trockenheit wagt er sich mittlerweile in Bereiche des Großstadtlebens vor, wo die Nüchternheit ohne Pathos und Mystik nicht weiter weiß. Um so weit vorzudringen, darf dann auch schon mal was nach hinten losgehen, die beiden besten Songs des Albums, „NYC Man“ und „Riptide“ schwanken beständig zwischen Großartig- und Peinlichkeit.

Natürlich ist und bleibt er ein selbstverliebter Egomane, wofür es immer mal wieder vielleicht sogar notwendige Prügel von der Kritik geben muß. Ein Egomane, der aber auch ohne weiteres den Preis für diesen Status – nämlich Einsamkeit, Enttäuschung und Selbsthaß – bezahlen kann. Der Typ kann allein sein. Im Prinzip braucht er das Publikum nicht. Aber er läßt uns zugucken und verabschiedet sich mit einem wie zu sich selbst gesagten, unendlich gedehnten „Dankeschön“, von dem meine Begleiterin fand, daß es schwul klang. Es ist gut, daß es ihn gibt. Andreas Merkel

Heute, 20 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten