Ein Leben lang Grundig hörig

Die Lager sind voll, der Umsatz stagniert, es wird entlassen. Doch die Belegschaft bleibt gelassen  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Um fünf Uhr ist die Nacht vorbei. Ohne Frühstück geht es hinaus in die Kälte. Der BMW springt an, und zwanzig Minuten später sind Luigi und Maria Monda am Ziel: Grundig, Werk 16, in Nürnberg. Jetzt noch schnell vorbei an den Zeitungskästen neben der Pforte, es wartet der heiße Kaffee, bevor es ans Band geht. War da was?

„Krise bei Grundig!“ „3.000 Arbeitsplätze weg!“ Schlagzeilen der letzten Woche. Doch das Ehepaar Monda läßt sich nicht beeindrucken. „Nein, nein, Grundig wird es immer geben“, da ist Maria Monda ganz sicher – sie lacht und ihr Mann nickt zustimmend. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Es war Sommer 1968, als Luigi Monda mit seiner großen Liebe Maria in Neapel in den Zug stieg. Er war 22, sie vier Jahre älter. Beide wollten Arbeit in Deutschland suchen. Es verschlug sie nach Nürnberg, dort lebte Marias Bruder. Bei einem Spaziergang stießen Luigi und Maria auf das Grundig- Werk. Sie fragten nach Arbeit, schon am nächsten Tag waren sie eingestellt. Sechs Monate später wurde geheiratet.

„Grundig, das war ein großer Name“, schwärmt Maria noch heute. „Den kannte man damals auch in Italien.“ Eigentlich wollten die Mondas nur ein, zwei Jahre bleiben, dann sollte es wieder zurück nach Italien gehen. Dort, nicht in Deutschland, sollten die Kinder aufwachsen. Doch Kinder kamen keine, und in Neapel gab es keine Arbeit.

Jetzt sind es schon 28 Jahre, in denen die 54jährige Maria Tag für Tag am Fließband die Platinen für die Grundig-Fernsehgeräte bestückt und ihr Mann „Mädchen für alles“ spielt: als Reparateur, Kontrolleur und, wenn nötig, auch am Band. Nach Italien geht es nur noch im Sommer – vier Wochen zum Urlaub im eigenen Häuschen nach Kalabrien. „Danach reicht es wieder“, erzählt Luigi. „Wir leben hier in Deutschland, wir arbeiten hier, dabei soll es bleiben.“

Maria bekommt glänzende Augen, wenn sie sich an ihr 25jähriges Betriebsjubiläum erinnert. „Das war schön, jeder durfte sechs Leute in die Kantine einladen, dort wurde gegessen und getrunken, es gab eine Urkunde und einen Scheck über 1.200 Mark.“ Die Mondas fühlen sich wohl in der Grundig-Familie. Doch die ist immer kleiner geworden.

Aus den einstmals 38.000 Beschäftigten des Gesamtkonzerns sind 11.400 geworden. Und jetzt sollen es noch einmal 3.000 weniger werden. Allein im Nürnberger Werk stehen über 500 Stellen zur Disposition. Dort, wo einstmals rund eine Million Fernseher im Jahr vom Band liefen, werden es nächstes Jahr wohl nur noch 325.000 sein. So sehen es die Pläne des neuen Vorstandsvorsitzenden, Pieter van der Wal, vor.

Luigi und Maria Monda macht das alles keine Angst. Ob Kurzarbeit oder die von der IG Metall geforderte 33-Stunden-Woche für Grundig, „weniger Arbeit ist besser als gar keine“, lautet ihre Devise. Sie sind sich einig: „Grundig macht niemals zu, vielleicht wird alles verkauft, aber dann gibt es einen neuen Chef.“ Die Mondas haben leicht reden. Sie genießen Kündigungsschutz, in wenigen Jahren gehen sie in Rente.

Doch auch sie registrieren die gereizte Stimmung unter ihren Kollegen. Mit Argusaugen wacht der Werkschutz darüber, daß die Medien nicht zu den Beschäftigten vordringen. „Anweisung von oben.“ Aus Angst vor Konsequenzen trauen sich viele Grundigianer auch jenseits der Werkstore nichts mehr zu sagen. Ärger macht sich bei ihnen breit, weil sie die Hiobsbotschaften erst aus den Zeitungen erfahren haben. Und Resignation. Die Lage in der ehemaligen Industrieregion Nürnberg und Fürth mit zweistelligen Arbeitslosenzahlen ist trostlos.

Diese Stimmung bekommt auch Dieter Appelt zu spüren. Obwohl der 48jährige schon seit 1975 im Betriebsrat sitzt und damit alle bisherigen Krisen des Grundig-Konzerns – einschließlich der Massenentlassung von 1983 erlebt hat –, geht ihm der jüngste Akt des Niedergangs nahe. Bei seiner Rede auf der Betriebsversammlung sah Dieter Appelt einen langjährigen Grundigianer weinen. „Das war ein gestandenes Mannsbild, den sonst kein Sturm umgehauen hätte. Für den ist eine Welt zusammengebrochen.“

Appelt fing 1971 als Stahlformenbauer bei Grundig an. „Grundig war der Daimler der Unterhaltungselektronik.“ Der Name bürgte für Qualität. Auch als 1984 der holländische Konzern Philips einstieg und die Alleinherrschaft von Firmengründer Max Grundig beendete, glaubte Appelt noch, daß „die besseren Zeiten zurückkehren“ würden. „Philips war ein Weltkonzern, hatte eine gute Bilanz und stand für solide Politik“, erinnert er sich. Heute ist für Appelt klar: „Der Einstieg von Philips war der Anfang vom Übel.“ Damals sei es vorbei gewesen mit dem Märchen vom Tellerwäscher, der Millionär wurde. Die Saga von Max Grundig, der 1945 ausgezogen war, um mit dem Radio Marke „Heinzelmann“ den Weltmarkt zu erobern, endete „spätestens 1984“, glaubt Appelt.

Es ging zwar noch einmal bergauf, die Fußball-WM 1990 brachte für Grundig einen Schub. Doch dann setzte die Firma zu große Hoffnungen auf die Wiedervereinigung. Sie blieb auf rund 500.000 Fernsehern im Wert von 917 Millionen Mark sitzen, die Lager waren voll, der Umsatz stagnierte, die Verluste stiegen in schwindelnde Höhen, die Belegschaft schrumpfte.

In Appelts Büro geht es rund. Pausenlos klingelt das Telefon, eine Krisensitzung, Pressekonferenz und Betriebsversammlung jagt die andere. „Es ist vergleichsweise ruhig hier“, übt er sich in Galgenhumor.

Josef Waegner bleibt tatsächlich ruhig. Gelassen geht er seinen Alltag an. Der 58jährige feiert im Mai sein 40jähriges Grundig-Jubiläum und läßt die letzten Jahre „ausklingen“. Den gelernten Kraftfahrzeugmechaniker zog es 1955 zu Grundig. „Das war eine gute Adresse, da war klar, daß man nicht gleich wieder entlassen wurde.“

Damals baute er am Band die berühmten Grundig-Musikschränke zusammen, später die Kofferradios. Die Stimmung in der Belegschaft war gut. Max Grundigs Regiment mit Zuckerbrot und Peitsche hatte Erfolg. Faschingsfeiern, Betriebsausflüge und andere Festivitäten förderten die Identifikation mit dem Betrieb. „Nach dem ersten Urlaub hatte ich eigentlich die Schnauze voll, aber dann blieb ich doch vierzig Jahre. Grundig ist eben eine Stellung auf Lebenszeit.“

Heute ist Waegner bei der Störstrahlmessung tätig. Er prüft die Radios auf elektromechanische Störungen, Frequenz für Frequenz. Das anschließende Protokoll ist Grundlage für die Genehmigung von der Post. Von dem einstmals so wohlklingenden Namen Grundig ist seiner Meinung „nicht mehr viel“ übriggeblieben. „Es wird doch alles ins Ausland verlagert“, empört er sich und meint die neuen Grundig-Werke in Wien und vor allem im polnischen Kalicz, die der Fernsehproduktion in Nürnberg bald den Rang ablaufen werden.

Besonders ärgert sich Waegner, daß der Grundig-Witwe Chantal nach dem Tode von Max Grundig 1989 eine Apanage von jährlich 52 Millionen Mark zugesichert wurde. Und zwar bis zum Jahre 2004, unabhängig davon, ob Grundig schwarze oder rote Zahlen schreibt. „Wie ist so etwas möglich, ich wüßte gar nicht, wie ich 52 Millionen ausgeben sollte.“

Doch darüber braucht sich Waegner keine Gedanken zu machen. Er hat bei Grundig keine Millionen angehäuft. Auch Waldemar Scheller hat nach 29 Jahren Betriebszugehörigkeit dieses Problem nicht. Seit vier Jahren ist der 61jährige in Rente, vorzeitig wegen Erwerbsunfähigkeit. Er lebt in einer engen Dreizimmer-Mietwohnung, die Arztbesuche häufen sich. Ob Radio, Video, Fernseher, alles ist bei den Schellers aus dem Hause Grundig. Man schwöre eben auf Qualität.

„Wenn du bei Grundig bist, hast du etwas Gescheites“, hieß es schon im März 1959, als sich Scheller bei Grundig vorstellte. Seinen ersten Arbeitstag vergißt er bis heute nicht. Es war ein Montag, der Personalchef war nicht da, niemand wies ihn ein. „Ich sollte ein Regal aufbauen, niemand hat mir gesagt, wann Brotzeit und Mittag ist. Ich dachte, in dem Betrieb werde ich nicht alt.“

Scheller erlebte den „störrischen Alten“, wie er bei seinen Betriebsrundgängen nach dem Rechten sah. Wenn Max Grundig auf dem Hof eine Schraube auf dem Boden liegen sah, schrie er: „Da kugelt mein Geld herum.“

Scheller weiß noch genau, wie er einmal dem Chef versehentlich auf die Zehen gestiegen ist. Er ging gerade rückwärts durch eine Tür heraus und sah nicht, daß Grundig hinter ihm stand. „Der Alte herschte mich an, ich habe mich eben entschuldigt“, erzählt er lachend. Waldemar Scheller lebt in der Vergangenheit, doch die Gegenwart holt ihn immer wieder ein: Er hat Angst um seine Grundig- Betriebsrente.