Recht ist nie jenseits von Emotion und Politik

■ Podiumsdiskussion: Welche Chancen hat der Nürnberger Prozeß eröffnet?

„Die Demaskierung der politisch Mächtigen, die wir in der Schule verherrlicht hatten, das war das Wichtigste.“ Jutta Limbach, Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, war gerade mal elf, zwölf Jahre alt, als das Internationale Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg tagte. Sie hatte damals angefangen, Zeitungen zu lesen, und verfolgte das Prozeßgeschehen aufmerksam. „Für alle Zeiten hat sich in mir eine Skepsis gegenüber Trägern der politischen Macht gebildet und das Pathos des ,Nie wieder‘ verfestigt“, betont sie heute, 50 Jahre danach, auf der Podiumsdiskussion „Gescheiterte Hoffnung oder neue Chance für den Frieden“ im legendären Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes. Nicht das Prozeßgeschehen 1945/46 ist Thema der Debatte, sondern die Frage, ob aus Nürnberg Lehren gezogen worden sind oder noch gezogen werden müssen für zukünftige Verfahren gegen Kriegsverbrecher.

Jutta Limbach spricht von einem „erhebenden Gefühl“, in einer Reihe mit Gesprächspartnern sitzen zu dürfen, denen das nationalsozialistische Regime schwere Verletzungen oder tiefe Einschnitte in ihr Leben zugefügt hatte. Simone Veil, die ehemalige französische Sozialministerin, die mit 17 Jahren nach Auschwitz und Bergen-Belsen deportiert wurde. Valentin Falin, der frühere Botschafter der Sowjetunion in Bonn, der allein 27 Verwandte im belagerten Leningrad verloren hat. Lord George Weidenfeld, Mitglied des britischen Oberhauses, der mit 18 Jahren vor den Nazis von Wien nach London flüchtete, und der amerikanische jüdische Historiker Gerhard Weinberg, der 1940 nach Amerika auswanderte. Sie alle fanden den Nürnberger Prozeß wichtig, doch jeder aus einem anderen Grund.

Für Falin war der Prozeß der „letzte Akt der Anti-Hitler-Koalition und der Beweis, daß Worte zu Taten werden können“. Er setzte in ihn eine „große Hoffnung, daß zukünftig Recht statt Gewalt herrschen“ könnte. Solche Tribunale seien heute einfach notwendig, „um das nachzuholen, was nach Nürnberg angesichts des Kalten Krieges versäumt worden ist“. Falin bezeichnet das Recht als „die einzige Hoffnung der Menschheit“, es müsse immer Priorität vor der Politik haben. „Entweder wir schaffen in den internationalen Beziehungen die gleiche Ordnung wie im innerstaatlichen Recht, oder die Zivilisation hat keine Zukunft.“

So dramatisch will es Jutta Limbach nicht sehen. Übereinstimmend mit Lord Weidenfeld hält sie es für die bleibende Leistung von Nürnberg, den einzelnen zur Verantwortung gezogen zu haben. „Noch nie war die Situation so günstig, einen Internationalen Strafgerichtshof zu schaffen, wie heute“, betont die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Trotz aller Schwierigkeiten mit den Gerichtshöfen in Den Haag im Falle Jugoslawien und in Arusha für Ruanda gibt es für Limbach „keine Alternative zu Tribunalen gegen Völkermord und Menschenrechtsverbrechen“.

Simone Veil dagegen hält nichts davon, allzu hohe Erwartungen in eine internationale Gerichtsbarkeit zu setzen. Schon von dem Nürnberger Prozeß hätte sie nichts für die Zukunft erwartet, obwohl er mit der Sanktionierung von Völkermord eine wichtige Symbolwirkung besitze. Sie glaube aber nicht, daß „ein Internationaler Strafgerichtshof einen Krieg verhindern“ könne. Recht habe „keine vorbeugende Wirkung“ und sei zudem nichts Abstraktes, jenseits von Emotion und Politik. „Recht wird von Menschen gesprochen“, betont die Ex-Ministerin und erteilt damit denjenigen, die an eine objektive, nicht von Interessen geleitete Rechtsprechung in innerstaatlichem wie internationalem Rahmen glauben, eine klare Absage.

Trotzdem hält auch sie die Ad- hoc-Tribunale in Den Haag und Arusha für einen „Fortschritt“. Um Sinn zu machen, müßten aber dort die Verantwortlichen und nicht die Ausführenden vor Gericht stehen. Auf jeden Fall mehr Sinn als der Aufbau eines Internationalen Strafgerichtshof macht ihrer Meinung aber der kontinuierliche Ausbau der europäischen Einigung „als praktisches, vorbildhaftes Modell zur Konfliktvermeidung.“

Dem Nürnberger Oberbürgermeister Peter Schönlein (SPD), der schon Nürnberg als Sitz eines zukünftigen Internationalen Strafgerichtshof wähnt, mahnte Veil zur „Vorsicht im Umgang mit dem Symbol Nürnberg“. Nürnberg könne aufgrund der Anstrengungen der Stadt und des in diesem Jahr zum ersten Mal verliehenen Internationalen Menschenrechtspreises ein Symbol für den Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen werden. Dieses Symbol müsse aber auch immer die Vergangenheit Nürnbergs als „Hochburg der Naziherrschaft“ mit einbeziehen. Bernd Siegler