■ Im südlichsten Bundesland brechen neue Zeiten an. Ab dem 1. November können bereits 10 Prozent der Wahlberechtigten einen Bürgerentscheid über kommunale Themen beantragen. In allen anderen Bundesländern gelten schärfere Bestimmungen
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Im südlichsten Bundesland brechen neue Zeiten an. Ab dem 1. November können bereits 10 Prozent der Wahlberechtigten einen Bürgerentscheid über kommunale Themen beantragen. In allen anderen Bundesländern gelten schärfere Bestimmungen

Bayern geht fremd

Am 1. November bricht sich das Chaos im Freistaat Bayern Bahn. Gefälligkeitspolitiker regieren fortan das Land, Sport- und Bolzplätze verschwinden, verunsicherte Firmenchefs ziehen reihenweise ihre Unternehmen ab, Müllverbrennungs- und Kläranlagen werden verschrottet, die Diktatur der Minderheit bläst der schweigenden Mehrheit erbarmungslos den Marsch. Wochenlang hatte die CSU mit Millionenaufwand den Teufel an die Wand gemalt – es hat nichts genutzt.

Das bayerische Volk, das bislang nahezu unverrückbar mit den Christlich-Sozialen verbandelt war, entschloß sich am 1. Oktober fremdzugehen und gab beim Volksentscheid mit 57,8 Prozent der Stimmen klar dem Vorschlag der Aktion „Mehr Demokratie in Bayern“ den Vorzug vor dem CSU-Vorschlag (38,7 Prozent). Die CSU erlitt damit die erste Niederlage bei einer landesweiten Abstimmung seit der Landtagswahl 1950 und hat den Nimbus des Unbesiegbaren verloren.

Ab 1. November gibt es zukünftig in Bayern die Möglichkeit zu einem kommunalen Bürgerentscheid, bei dem die einfache Mehrheit der Stimmen entscheidet. Lange hatte die CSU alle Spielarten von direkter Demokratie auf kommunaler Ebene abgelehnt. Nachdem aber im Februar dieses Jahres bereits 1,2 Millionen Bayern das Volksbegehren „Bürgerentscheide in Gemeinden und Kreisen“ unterstützt und damit den Volksentscheid am vergangenen Sonntag möglich gemacht hatten, entschloß sich die Regierungspartei zu einem eigenen Gesetzentwurf unter dem Motto „Ja, aber“. Prinzipiell mehr direkte Bürgerbeteiligung, aber so hohe Hürden (siehe Kasten), daß es nur in den seltensten Fällen überhaupt dazu kommt.

Doch die Rechnung ging nicht auf. In den Großstädten landete der CSU-Entwurf bei Prozentmarken, die ansonsten in Bayern den Sozialdemokraten vorbehalten sind. 32 Prozent in Nürnberg, 33,3 Prozent in München und schlappe 29,8 Prozent in Augsburg. Doch auch in ländlichen Regionen behielt die Aktion „Mehr Demokratie in Bayern“ klar die Oberhand. In tiefschwarzen Landkreisen, in denen die CSU bei Landtagswahlen locker die Zweidrittelmehrheit einstreicht, votierten nur etwa 40 Prozent für den CSU-Entwurf, der als „Gesetzentwurf des bayerischen Landtages“ auf den Stimmzetteln vermerkt war.

Symptomatisch der Kreis Rhön- Grabfeld, wo die CSU bei den letzten Landtagswahlen vor einem Jahr noch mit annähernd 70 Prozent ihr bestes Ergebnis erzielt hatte: Dort landete ihr Entwurf bei 42 Prozent. Die Initiative für „Mehr Demokratie“ gewann mit 54 Prozent souverän die absolute Mehrheit.

„Das ist ein gutes Zeichen“, wertete Thomas Mayer, Sprecher vom „Mehr Demokratie“, den flächendeckenden Erfolg. Dem dreißigjährigen Buchhalter aus Kempten war es in jahrelanger zäher Arbeit gelungen, fünfzig Organisationen – von der SPD über Bündnis 90/Die Grünen bis hin zur Bayernpartei, vom Bund Naturschutz bis zur Katholischen Landjugend und dem Deutschen Tierschutzbund – für seine Vorstellung von direkter Demokratie zu begeistern. Euphorisch feierte er den „großen Sieg für das bayerische Volk“ und hofft, daß jetzt „alle anderen Bundesländer neidisch nach Bayern schielen“.

Betröppelte Mienen dagegen bei der CSU. Die Parteistrategen, ansonsten bei der Interpretation von Wahlergebnissen nie um Worte verlegen, taten sich schwer mit der Kommentierung. Nur die niedrige Wahlbeteiligung (36,9 Prozent) diente ihnen als Munition. „Atypische Abstimmung“, moserte CSU-Fraktionschef Alois Glück, „eine leider sehr schmale Basis der Zustimmung“, murmelte Ministerpräsident Edmund Stoiber und versprach, man werde das „Gesetz respektieren“. Und Parteichef Theo Waigel grummelte ganz im Widerspruch zu den zuvor im Wahlkampf verbreiteten Horrorszenarien, die Entscheidung sei doch „nicht mehr als eine Abstimmung über die Geschäftsordnung“ gewesen.

„Der Bürgerentscheid macht die Gesellschaft ein Stück egoistischer, weil Minderheiten zu viel Macht bekommen“, zeigte sich CSU-Generalsekretär Bernd Protzner unbelehrbar. Lernfähiger sind in seiner Partei dagegen andere. Flugs entdecken CSU-Funktionäre das Instrument des Bürgerentscheids für sich, um mißliebige Projekte vor allem in den rot-grün regierten Städten München und Nürnberg zu torpedieren. Münchens Parteichef Peter Gauweiler will nun den Ausbau des Mittleren (Straßen-)Ringes der Hauptstadt per Bürgervotum durchsetzen. Innenminister Günther Beckstein, Chef der Nürnberger CSU, plant, dem selbstverwalteten Jugendzentrum „KOMM“ per Volkes Stimme den Garaus machen. Bernd Siegler, Nürnberg