Es gibt zwei Leben vor dem Tod Von Philipp Maußhardt

32 und 50 macht 82. Das Leben des Claus Volkmann

dauerte 32 Jahre. 50 Jahre lang das des Peter Grubbe.

Volkmann und Grubbe sind eine Person: Judenverfolger und engagierter Journalist. Grubbe ist heute ein alter Mann, 82 Jahre alt. Er lebt glücklich und zufrieden in

einem schönen Haus nördlich von Hamburg, Seeblick

inklusive. In Kolomea lebt kein Jude mehr.

Deutsche Biographien des 20. Jahrhunderts haben Sprünge, Risse und Schnitte. Der Neuanfang nach 1945 war für die Mehrzahl der Deutschen im Wortsinn zu verstehen. Ein Volk von Tätern auf der Suche nach einer neuen Identität. Diejenigen, denen aufgrund von begangenen Verbrechen tatsächlich Strafe drohte, waren auf besondere Weise mit der Frage nach dem Neubeginn konfrontiert. Manche brachten sich um. Manche flohen nach Südamerika. Manche saßen im Gefängnis. Manche wurden gehängt. Manche schämten sich. Claus Volkmann verhielt sich anders.

Mit dem Tag der deutschen Kapitulation wechselte der ehemalige Ghetto-Chef von Kolomea in Ostgalizien (heute: Ukraine) seinen Namen. Von 1945 an war Peter Grubbe ein engagierter Journalist, eine Stimme für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und gegen die Unterdrückung Andersdenkender.

„Warum tun Sie das? Was hat Ihnen dieser Mann getan?“ Ich hatte einem deutschen Juden, der 1933 aus Berlin emigrierte und nun, nach über 50jährigem Exil, nach Deutschland zurückgekehrt war, meinen Text über Volkmann/ Grubbe zu lesen gegeben. Ich war über seine Reaktion verwirrt. Gerade er hätte doch empört sein müssen. Die Familie von Hans Sahl war im KZ ermordet worden, ihn selbst hatten die Nazis aus seiner Heimat vertrieben, er hatte die Schreibtischtäter und furchtbaren Juristen im Nazi-Apparat am eigenen Leib fürchten gelernt – und nun warf ausgerechnet er mir vor, einen alten Mann nicht in Ruhe zu lassen. Vielleicht hatte er ja recht. Ich schmiß den Text in den Papierkorb und vergaß ihn – eine Zeitlang.

Doch auf der Suche nach Kuverts, Briefmarken oder Zigaretten zog ich an meinem Schreibtisch immer wieder versehentlich die zweite Schublade von oben auf. Da waren sie wieder, die Akten, Zeugenaussagen und Protokolle. Wieder las ich, was Isaac Krauthammer oder Hermann Zenner und andere aufgeschrieben hatten, nachdem sie der Hölle von Kolomea entkommen waren. Und ich dachte: Die kleine Tochter von Dr. Schütz, die ein SS-Mann in den Armen ihres Vaters einfach so zum Spaß im Ghetto von Horodenka erschossen hat, oder Frau Krumberg, die auf der Suche nach Eßbarem in Kolomea kurzerhand an die Wand gestellt und erschossen wurde. Haben sie kein Recht darauf, daß die Mörder angeklagt werden und auf einen gezeigt wird, der heute ein freundlicher alter Herr ist?

Ich besuchte Peter Grubbe vor ein paar Jahren in seinem Haus in Lütjensee in Schleswig-Holstein, schön gelegen im Grünen. Als ich am Gartentor klingelte, winkte er schon von der Eingangstür her und erkundigte sich, ob es sehr schwer gewesen sei, ihn zu finden. Er meinte das geographisch. Ich verstand es biographisch und bejahte. Drinnen gab es Plätzchen und Tee. Grubbe goß ihn ruhig in englische Tassen. Er wußte, warum ich gekommen war: „Nun schießen Sie los, was haben Sie auf dem Herzen?“

Fragt so ein Massenmörder? So sieht doch keiner aus, der den Tod von 30.000 Juden mit zu verantworten hat, so entspannt, so selbstsicher, auch so nachdenklich. „Also wissen Sie, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, sagte Grubbe. „Wenn man den Menschen damals helfen wollte, mußte man gute Miene zum bösen Spiel machen. Ich habe vielen das Leben gerettet, die von der SS schon für die Vernichtungslager vorgesehen waren.“

Zwei Tage davor hatte ich im Archiv der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg gesessen und notiert: Claus Volkmann war einer der ersten deutschen Verwaltungsbeamten in dem bis zum Sommer 1941 sowjetisch besetzten Ostgalizien, das nun dem sogenannten „Generalgouvernement“ zugeschlagen wurde. Als kommissarischer Kreishauptmann übernahm er die zivile Leitung des Kreises Kolomea, einem von Polen, Ukrainern, Deutschen und Juden bewohnten Landstrich am Rande der Waldkarpaten. Hier lebten, als Volkmann im Sommer 1941 eintraf, etwa 30.000 Juden.

Das Generalgouvernement und insbesondere das im Sommer 1941 dazu annektierte Ostgalizien war, wie der Journalist Erich Kuby in seinem Buch „Als Polen deutsch war“ (Hueber Verlag, 1986) schrieb, der „Exerzierplatz, auf dem der Münchner Heinrich Himmler vorführte, wie die Mordpraxis deutscher Kolonialpolitik aussah“.

Zum Chef der zivilen Verwaltung im „Generalgouvernement“ hatte Hitler den Münchner Rechtsanwalt Dr. Hans Frank ernannt. Der unterteilte das 142.000 Quadratkilometer große Gebiet in 5 Distrikte und 54 Kreis- und 7 Stadthauptmannschaften. „Alle Verwaltungstätigkeit“, so steht es in Baedekers Reiseführer „Generalgouvernement“ von 1943, „ist auf dem deutschen Führungsanspruch aufgebaut.“ Diesen Anspruch vor Ort durchzusetzen war Aufgabe der Kreishauptmänner.

Eine der ersten Maßnahmen Volkmanns war die Kennzeichnungspflicht aller jüdischen Einwohner. Wer sich dem Tragen des Davidsterns widersetzte, konnte mit dem Tod bestraft werden. Seine Wohnung hatte der Kreishauptmann in einer von Juden konfiszierten Villa bezogen. Auf seinen Befehl hin wurden alle Wertsachen der Juden beschlagnahmt. In den größeren Gemeinden seines Kreises ließ er Ghettos für die jüdische Bevölkerung einrichten. Innerhalb von 48 Stunden hatten sich alle Juden in dem mit Stacheldraht umgebenen Viertel einzufinden. In einen Raum wurden bis zu dreißig Menschen gepfercht. Die von Volkmanns Behörde zugeteilten Lebensmittel reichten bei weitem nicht aus. Täglich starben im Ghetto von Kolomea vierzig bis fünfzig Menschen an Hunger.

Die Akten über die Vernichtung der Juden Kolomeas füllen in Ludwigsburg rund hundert Ordner: „...sie schleppten alle Säuglinge und Kinder fort, ließen ein Massengrab ausheben und legten dann die Kinder in der Form eines Sowjetsterns in das Grab, bewarfen es mit Erde, nachdem sie die Kleinen vorher mit der stumpfen Seite einer Hacke betäubt hatten, und ließen sie im Grab ersticken... Der achtjährige Sohn des Benjamin Gottlieb wurde an die Wand geschleudert, sein Blut bespritzte die Wände und den Boden...“

Für all das sollte dieser kleine alte Herr mit den freundlichen Augen mitverantwortlich gewesen sein? Er soll auf dem Marktplatz von Kolomea gestanden haben, um die Selektierung von arbeitsfähigen und todgeweihten Juden zu beaufsichtigen? „So etwas habe ich nie gemacht“, sagte Grubbe zu mir und bat seine Frau als Zeugin ins Zimmer: „Sehen Sie“, sagte er zu mir, „alles, was Sie hier an Teppichen und Schmuck sehen können, ist ehrlich erworben. Diese Vorwürfe, ich hätte Juden gar erpreßt, sind doch absurd.“

Grubbes Wohnung ist vollgestellt mit Souvenirs – Andenken an seine Reisen nach Asien und Afrika. Marmeladengläser voll mit Gold, handgewebte Teppiche der in den Karpaten lebenden Huzulen, Schmuck und Pelze sollen Volkmann und seine damalige Frau Ada von Haynitz den Juden abgenommen haben. „Schauen Sie sich ruhig um, Sie werden davon nichts finden.“ Im Bücherregal stehen vor allem Bücher über die „Dritte Welt“. Grubbe ist Spezialist für diesen Teil der Welt, er hat fast alle Länder Asiens und Afrikas bereist. War er nach 1945 auch in Polen oder Israel? „Es hat sich nicht ergeben.“

Akten zu lesen ist das eine. Einem Menschen gegenüberzusitzen das andere. Ich konnte nicht wütend werden auf ihn, dazu ist Peter Grubbe viel zu sympathisch. Nein, das spielte er nicht nur, um mir den Wind aus den Segeln zu nehmen. Noch nie hatte ihn jemand aus diesem Grund besucht, in 43 Jahren nicht. Der mir so selbstsicher gegenübersaß, hätte mein Großvater sein können. Und so behandelte er mich auch: großväterlich. Er erklärte mir, wie es damals zuging in Kolomea. Wie listig er sein mußte, um gegen die Scharfmacher von der SS und der Gestapo etwas durchzusetzen; um die größte Not zu lindern; um wenigstens ein bißchen zu helfen, diesen armen Juden.

Zwei Monate nachdem Volkmann sein Amt als Kreishauptmann in Kolomea übernommen hatte, fand im Oktober 1941 die erste Massenerschießung von Juden aus Kolomea statt. Eine Gruppe von 1.200 Personen wurde im Ghetto zusammengetrieben und anschließend im Wald von Szeparowce erschossen. Die Gruben für die Leichen hatte der Volkmann persönlich unterstellte „Sonderdienst“, ein aus Volksdeutschen zusammengestellter Miliztrupp, ausheben lassen. Insgesamt wurden während der Amtszeit Volkmanns mehr als 5.500 Juden aus Kolomea erschossen. Ein Zeuge berichtet: „Der Zug der Opfer ging durch die Straßen der Stadt. Auf beiden Seiten der Straße gehen die Wachmannschaften: Schupo, Kripo und ukrainische Miliz, Gestapo auf Pferden mit Peitschen und Spießruten in den Händen. In einiger Entfernung fährt eine Limousine vorbei. In diesem Auto sitzen die obersten Leiter des Massenmords, Leideritz, Härtl, Volkmann.“

Volkmann, Chef der Zivilverwaltung, und Peter Leideritz, Chef der Gestapo in Kolomea, kämpften erbittert um die Vorherrschaft über das jüdische Ghetto. Während Leideritz ein brutales Vorgehen gegen die Juden befürwortete, zog Volkmann vor allem Profit aus jüdischen „Schmiergeldern“, verbunden mit dem Versprechen, „Aktionen“ gegen die Juden hinauszuzögern. In einem Bericht über Kriegsverbrecher der „Jewish Agency for Palestine“ vom 16. Mai 1945 wird Volkmann vorgeworfen, die Konfiszierung des gesamten jüdischen Eigentums angeordnet und eine Hungerkampagne gegen die Ghetto-Bewohner geleitet zu haben. Weiter heißt es in dem Bericht: „Im Mai 1942 ordnete er die Inhaftierung von 30 Juden an, die dann im Wald von Szeparowce erschossen wurden.“

Ratlos fuhr ich damals von Lütjensee weg. Vielleicht hatte er ja wirklich heimlich Widerstand geleistet. Vielleicht waren alle diese Zeugenaussagen übertrieben oder beruhten auf Verwechslung. Ich war dabei, Grubbe zu glauben. „Warum haben Sie dann 1945 Ihren Namen gewechselt, wenn Sie nichts zu verbergen hatten?“ hatte ich Grubbe am Schluß gefragt, und er hatte lächelnd geantwortet: „Ich habe nie verschwiegen, daß ich eigentlich Volkmann heiße. Ich wollte nur nicht unter meinem Geburtsnamen schreiben, weil mein Vater auch schriftstellerisch tätig war.“

Ja, ich kannte die Bücher jenes Erich Otto Volkmann, Generalstabsoffizier und Schriftsteller in einem. Sein Roman „Die roten Streifen“ aus dem Jahr 1938 steht in meinem Bücherregal: „...Das Herz des Führers schlägt ruhig. Der Rausch des Glücks verwirrt ihn nicht. Auch in dieser Zeit fühlt er sich in stolzer Demut als Gesalbter des Herrn, als Werkzeug einer höheren Macht...“

Mit der Errichtung der Vernichtungslager Belzec und Kulmhof Anfang 1942 begann für die Juden Galiziens die „Endlösung“. In vollgestopften Viehwaggons transportierte man Männer, Frauen, Kinder in den Tod. Aus Kolomea kamen die ersten Züge im März 1942 in Belzec an. Elf Monate später meldeten die deutschen Behörden: Kolomea ist „judenrein“.

Zu diesem Zeitpunkt war Volkmann bereits an seiner neuen Wirkungsstätte in Lowitsch. Wiederum als Kreishauptmann war er dort nun vor allem zuständig für die Rekrutierung polnischer Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie. Wie erfolgreich er seinen Auftrag erledigte, liest sich in der Begründung für die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes 1. Klasse so: „Auf dem Gebiet der Ernteerfassung wie auch bei der Erfassung von Arbeitskräften für das Reich hat er sich besondere Verdienste von wesentlicher Auswirkung für die Durchführung von Kriegsaufgaben erworben.“ Diese Anerkennung wurde Volkmann zuteil, als die Rote Armee auf ihrem Vormarsch schon weit nach Westen vorgedrungen war. Rechtzeitig vor ihrem Eintreffen floh Volkmann über Thüringen nach Baden-Württemberg, nannte sich Peter Grubbe, von Beruf Journalist.

Der 32jährige stellte sich sofort dem Aufbau der demokratischen Bundesrepublik zur Verfügung. Peter Grubbe schrieb, als die ersten deutschen Zeitungen wieder erscheinen konnten, flammende Artikel gegen das Elend, das der Nationalsozialismus angerichtet hatte. Grubbe veröffentlichte in antifaschistischen Jugendzeitschriften: im Benjamin, in der Zukunft und im Ostberliner Horizont.

So ein engagierter Schreiber fiel auf. 1948 bot ihm die damals noch nicht rechtskonservative FAZ eine

Korrespondentenstelle in London an. Grubbe akzeptierte dankbar. Weil er sich in London vor einer möglichen Entdeckung sicherer fühlte?

1949 heiratete er dort zum zweiten Mal: eine aus Deutschland 1933 emigrierte Jüdin. Tarnung? „Meine Frau wußte, welche Funktion ich im Osten hatte. Glauben Sie, sie hätte einen Judenfeind geheiratet?“ Niemand glaubt das. Aber kannte sie wirklich die Akten der Jewish Agency über ihren Mann? Hatte sie ihn gelesen, den Satz: „Zu Beginn des Jahres 1942 ordnete Volkmann die Verhaftung einer Gruppe prominenter Juden von Kossov an, die dann im Wald von Szeparowce erschossen wurden.“ Als Grubbe 1958 aus London nach Deutschland zurückkehrte, um zur Welt zu wechseln, wollte seine Frau nicht mit. Nicht mehr in dieses Land. Sie ließen sich scheiden.

Nun begann der unaufhaltsame Aufstieg des Journalisten Peter Grubbe, der auf Fragen, was er während des Nationalsozialismus getan habe, stets erklärte, er sei „Gefreiter“ bei der Wehrmacht gewesen. 1963 wechselte Grubbe von der Welt zum damals linksliberalen Stern. Dort saß er Tür an Tür mit Erich Kuby, Autor vieler Artikel und Bücher über die NS-Verbrechen. „Immer höflich“, sei Grubbe zu ihm gewesen, erinnert sich Kuby. Aber ehrlich? „Daß er mit Polen etwas zu tun hatte, war unbekannt.“ Hätte Kuby etwas davon gewußt – „ich hätte für seine Entlassung plädiert“. Nur einer kannte die wahre Identität des Stern-Reporters: Der Chef persönlich. Henry Nannen aber – selbst als Kriegsberichterstatter an der Front – schwieg.

Grubbes Tarnung war so perfekt, daß er es sogar verheimlichen konnte, als 1963 die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen ihn eine gerichtliche Voruntersuchung eröffnete. Unter dem Aktenzeichen 2 JS 857/63 ermittelte sie gegen Volkmann und 27 andere Angehörige deutscher Dienststellen in Kolomea „wegen der Beteiligung an der Endlösung“. 375 Tatkomplexe wurden den Angeschuldigten vorgeworfen. „Mangels hinreichendem Tatverdacht“ wurde das Verfahren gegen alle Beschuldigten sechs Jahre später eingestellt.

Kein einziger der in diesem Verfahren gehörten Zeugen entlastet Volkmann. Allenfalls erinnert sich mancher nicht mehr daran, ob der Kreishauptmann selbst geschossen hat. Doch, es gibt drei Menschen, die bescheinigen „eidesstattlich“, daß Claus Volkmann ein guter Nazi war. Doch alle drei waren selbst Funktionsträger in der deutschen Verwaltung, und einer dieser „Zeugen“, Gerhard von Jordan, stand selbst auf der Kriegsverbrecher-Liste der Jewish Agency, weil er als damaliger Leiter des Landwirtschaftsamtes von Kolomea zusammen mit Volkmann eine „Hungerkampagne“ gegen die Juden geleitet haben soll. Ausgerechnet Jordan also stellte seinem ehemaligen Vorgesetzten kurz nach dem Krieg ein Unschuldszeugnis aus: „Seine Tätigkeit im besetzten Gebiet hat Volkmann in erster Linie als Dienst an der einheimischen Bevölkerung aufgefaßt.“

Hat Grubbe jemals ein Gefühl von Reue empfunden? Hatte er überhaupt etwas zu bereuen? In seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter am 29. November 1967 in Darmstadt ist nichts davon zu bemerken. Der ehemalige Ghetto-Chef von Kolomea kann sich an kaum etwas erinnern: „Ob ich jemals einen Strafbescheid gegen Juden unterschrieben habe, weiß ich nicht.“ Frage: „Was waren die Aufgaben des Ihnen unterstellten Sonderdienstes?“ Antwort: „Mir fällt zur Zeit nichts ein.“ Frage: „Ist Ihnen bekannt, daß Juden, die das Ghetto verließen, mit dem Tode bestraft wurden?“ Antwort: „Nein.“ Frage: „Ist Ihnen bekannt, daß Juden wegen Verstoßes gegen die Verordnung über Aufenthaltsbeschränkungen an Ort und Stelle von der Gestapo erschossen wurden?“ Antwort: „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Und stimmt es, was Josef Schliesser sagt, was Philip Hisenrath sagt, was Moshe Scheebalg sagt und Baruch Engler, Sigmunt Prinz, Dr. Goldstein, Filip Gortfryd sagen, stimmt das alles? Antwort: „Nein, nein, nein, nein, nein.“

Es stimmt nicht. Und wenn es stimmt, was für eine Bedeutung hatte es 1967 und hat es heute? Hat Volkmann/ Grubbe nicht bewiesen, daß er seit 1945 ein anderer, ein besserer Mensch geworden ist? Hat er nicht auf ganz private Weise Wiedergutmachung geleistet? Hätte er, wäre seine Vergangenheit frühzeitig aufgedeckt worden, überhaupt schreiben und publizieren können? Wem hätte ein Kriegsverbrecher Volkmann genutzt?

Ich hörte von Grubbe zum ersten Mal vor acht Jahren durch den Schriftsteller Werner Steinberg in Dessau. Steinberg erwähnte den Namen am Rande eines Gesprächs. Er hatte Grubbe 1946 in Tübingen kennengelernt und ihn als Mitarbeiter in der Zeitschrift Die Zukunft beschäftigt. Als Steinberg in der Vergangenheit Grubbes bohrte, zog sich Grubbe erst in die amerikanische Besatzungszone und von dort aus nach London zurück. Steinberg selbst siedelte 1954 in die DDR über und war somit für Grubbe ungefährlich geworden. Mit der Namensnotiz in der Hand suchte ich in den Akten des Zentralarchivs für Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg – es war nicht schwierig, fündig zu werden. Auch im „Yad-Vashem-Archiv“ in Jerusalem füllen die Aussagen überlebender Juden aus Kolomea Bände. Über Volkmann existiert ebenso bei der Untersuchungsstelle für NS-Verbrechen der Polizei in Tel Aviv eine Akte, die ihn als „Kriegsverbrecher“ einstuft. Kein Wunder also, daß der „Reise- Journalist“ Grubbe immer einen großen Bogen um Israel machte.

Wie ein Besessener schrieb Peter Grubbe nach dem Krieg Reportagen über das Elend. Als einer der ersten deutschen Nachkriegs- Journalisten reiste er um die halbe Welt, Ungerechtigkeit und Unterdrückung waren und blieben die Themen, für die er sich engagiert. „Die auf Steinen schlafen“, heißt eines seiner ersten Reisebücher (1958), oder: „Die Trommeln verstummen“ (1957) über das Selbstbestimmungsrecht der afrikanischen Völker.

„Dieser Mann hat bewiesen, daß er aus seiner Vergangenheit gelernt hat. Macht ihn doch nicht fertig.“ Der mir das sagte, ist der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Gesellschaft für bedrohte Völker“, Tilman Zülch. Viele Jahre saß Grubbe im Beirat der Gesellschaft, ohne daß jemand seine wahre Biographie gekannt hätte. Daß er heute nicht mehr im Beirat sitzt, ist meine Schuld. In einem Artikel der Mitgliederzeitschrift pogrom wurde im Februar 1992 ein von Grubbe neu erschienenes Buch besprochen: „Der Untergang der Dritten Welt. Der Krieg zwischen Nord und Süd hat begonnen“. Wieder stieß ich auf den „engagierten Journalisten Grubbe“. Daß da immer noch ein anderer war, wußte ja keiner, außer mir und meiner Schublade. Mein wütender Brief an die Gesellschaft, ob sie wisse, wen sie da in den eigenen Reihen habe, veranlaßte den Vorsitzenden Tilman Zülch, „still und heimlich“ Grubbe aus dem Beirat zu streichen.

Auf einmal tat er mir wieder leid. Mir fiel ein, wie er beim Abschied vor seinem Haus in Lütjensee plötzlich so nachdenklich geworden war und gesagt hatte: „Vielleicht sollte ich darüber doch ein Buch schreiben, vielleicht sogar ein Theaterstück.“ Ja, dachte ich, das wäre mutig. Grubbe schreibt über Volkmann. Ein Buch über Verdrängung und Schuldgefühl und die daraus erwachsene Antriebskraft für sein ruheloses Journalistenleben. Er hat es nicht getan. Er hat es nicht gewagt. Sieben Jahre lang habe ich darauf gewartet. Bis heute schweigt er über sein erstes Leben. Er hält es für seine Privatangelegenheit. Er hat sich ja „nichts vorzuwerfen“.

Was wäre das gewesen: Steht ein alter Mann vor mir und sagt: Gerade weil ich selbst ein Nazi war, bin ich ein so kompromißloser Demokrat geworden. Gerade weil ich selbst am Völkermord beteiligt war, wollte ich ihn seither brandmarken und bekämpfen. Ich hätte die Schublade wohl zugelassen.