„Zweimal Rentner, Block 1“

Alfons Scheidel muß hoffen, daß der 1. FC Nürnberg gewinnt. Sonst ist mit seiner Frau Charlotte nichts anzufangen. Doch allzuoft verliert er.  ■ Aus Nürnberg Bernd Siegler

Heiß ist es heut' am Platz. Doch das spielt keine Rolle. Charlotte und Alfons Scheidel sind zur Stelle. Tag für Tag, ob es regnet oder schneit, beobachten sie das Training der Profis vom 1. Fußballclub Nürnberg. Das ist jener Verein, den die ganze Welt nur „Club“ nennt. Eine ganze Clique von Kiebitzen im Rentneralter wacht am Valznerweiher über jedes Dribbling der Zweitliga-Kicker, registriert jede Freistoßvariante und goutiert jeden Spurt. Oder auch nicht. Am Wochenende pilgern sie dann ins Franken-Stadion, egal, wie schlecht der Club in der letzten Zeit auch gespielt haben mag.

Charlotte Scheidel ist 76, genauso alt wie ihr Mann. „Ich habe schon oft versucht, mein Wochenende zu retten. Aber das hat nie geklappt“, sagt sie. Dann schüttelt sie den Kopf, lacht und läßt dabei das Trainingsspiel nicht aus den Augen. Ihr Mann rückt die Schirmmütze zurecht: „Uns kann nichts mehr erschüttern, ändern kann man sowieso nichts.“ Er grinst und mischt sich wieder in den Expertenstreit am Rande des Platzes. Lautstarke Schimpfkanonaden sind das; über Spieler, Trainer und Vorstandschaft. Der Liebe zum Verein tun sie jedoch keinen Abbruch. „Ich finde es albern, wenn sich Leute ärgern und dann sagen, sie gehen nie mehr zum Club“, sagt Charlotte Scheidel. Nie mehr ins Stadion, das käme für sie nicht in Frage.

Leicht hat sie es nicht gehabt, als einzige Frau unter all den „Experten“. Aber, sagt sie: „Ich habe mich durchgesetzt und mir nie die Butter vom Brot nehmen lassen.“ Für Charlotte Scheidel ist Fußball keine Männersache. Der Jungspund (65) neben ihr bekommt das zu spüren. Soeben hat er dem Club-Eigengewächs Marc Oechler wegen dessen Herkunft aus einer Metzgerfamilie den Kosenamen „Leberkäse“ verliehen. „Sei bloß ruhig“, schnauzt Charlotte ihn an. „Grundsätzlich streite ich mich ja nicht über Fußball“, winkt sie ab, „aber wenn jemand hier draußen sagt, ihm sei egal, ob der Club gewinnt oder verliert, den frage ich dann scho, was er hier überhaupt will.“

Schuften für den Aufbau, schwitzen für den Club

„Die anderen haben spitzgekriegt, daß man ihr kein X für ein U vormachen kann, was den Club angeht“, sagt ihr Mann Alfons. Er sagt es augenzwinkernd – und nicht ohne Stolz. Seit 25 Jahren begleitet ihn seine Frau zu fast jedem Punktspiel ins Stadion. Oder er sie. „Es war an einem schönen Sommerabend, da hat mein Mann zu mir gesagt: ,Heute gehen wir ins Stadion‘. Ich war richtig begeistert, es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Charlotte Scheidel. Das war 1970, und der Club gerade abgestiegen aus der Bundesliga. 4:1 gewann man damals gegen die Stuttgarter Kickers. „Ich hätte nicht damit gerechnet, daß sie dann immer mitgeht“, gesteht Alfons Scheidel. Heute ist er aber froh drüber, daß es so kam.

Ganz früher nämlich war er noch mit Bekannten zu seinem geliebten Club gefahren. Schon 1936 war er Mitglied geworden – allerdings in der Leichtathletikabteilung. Da lernte Scheidel in Nürnberg Dreher. Dann kamen Krieg und Gefangenschaft. Kaum war er wieder in Nürnberg, zog es ihn aber schon wieder zum Club. Zu seinen Idolen, die Max Morlock, Edi Schaffer und „Schorsch“ Kennemann hießen und 1948 den Meistertitel holten. 1950 heiratete er seine Charlotte. Ihr Sohn Peter war da bereits fünf Jahre alt. „Wir hatten doch vorher nichts, da konnten wir doch nicht heiraten“, sagt Alfons Scheidel. Er sagt es, als müsse er sich heute noch dafür entschuldigen.

In den Nachkriegsjahren schuftete er bis zu 55 Stunden die Woche in einer Maschinenfabrik – am Wochenende schwitzte er eineinhalb Stunden für und mit seinem Club im Stadion. Seine Frau Charlotte arbeitete derweil in Fürth bei Quelle und sorgte dafür, daß Bestellungen auch in der richtigen Reihenfolge bearbeitet wurden.

Der Versuch, die Fußballbegeisterung auch auf den Sohn zu übertragen, schlug fehl. An einem Samstagnachmittag im Sommer 1953 nahm Alfons den achtjährigen Peter mit ins Stadion. „Doch der schaute gar nicht aufs Spiel, der stocherte nur im Sand herum.“ Seitdem hat er seinen Sohn nicht mehr mitgenommen.

Als der Club 1968 seinen letzten Meistertitel geholt hatte, waren die Scheidels bei der großen Feier am Hauptmarkt dabei. „Das Gefühl kann man gar nicht beschreiben. Aus aller Munde kam das Wort Nürnberg, das tut einem als Nürnberger schon gut“, erinnert sich Charlotte Scheidel. „Wir waren am Bahnhof, haben die Mannschaft abgeholt, das war ein Ereignis, das passiert so schnell nicht wieder.“ Das ist wohl wahr, und so schwingt ein bißchen Wehmut in ihrer Stimme mit. Dann verstummt sie und schüttelt ein paarmal den Kopf. Wahrscheinlich spuken alte Geschichten nun darin herum.

Die stammen halt aus einer anderen, einer ruhmreichen Zeit, in der der 1. FCN neunmal deutscher Meister, dreimal Pokalsieger wurde. Auch an den unerwarteten Aufstieg in die Bundesliga vor zehn Jahren erinnern die Scheidels sich noch sehr gut. Gleich bekommen sie wieder glänzende Augen. Damals nämlich erhielten die Spieler nach ihrem Sieg im heimischen Stadion riesige Blumensträuße geschenkt. Und der schnauzbärtige Stürmer Herbert Heidenreich lief schnurstracks auf Charlotte Scheidel zu und drückte ihr seinen Strauß in die Arme. Oder die Geschichte mit dem belgischen Trainer Vliers. „Den haben sie abgesägt, der hat sein Geld im Zigarrenkistchen bekommen.“ Das war 1979 und im Kistchen befanden sich 60.000 Mark Abfindung.

In der jüngsten Zeit hat der Club mehr durch Schuldenrekorde oder inhaftierte Schatzmeister von sich reden gemacht. Aber deshalb gleich nicht mehr täglich zum Valznerweiher pilgern? Nicht mit den Scheidels. „Wir verbinden das immer mit einem Spaziergang, man ist an der frischen Luft, das ist schön“, sagt Charlotte Scheidel. Beenden die Kicker mehr oder minder verschwitzt ihr Trainingspensum, geht es für die Kiebitze noch weiter – in der Kneipe am Rande des Geländes. Dort sitzen sie auf Biergartenbänken und schimpfen über die Gegenwart, schwelgen in der Vergangenheit und hoffen auf die Zukunft. Ob Bundesliga, 2. Liga oder Regionalliga – „wir bleiben dem Club treu“. Charlotte Scheidel sagt es, und es klingt wie ein Schwur. Ihr Mann nickt zustimmend, und den anderen Rentnern geht es genauso.

„Ein Leben ohne den Club kann ich mir schlecht vorstellen“, gibt auch Hermann Schmidt (77) zu. „Man hängt halt an dem Verein, wenn man seit Kriegsende da hinrennt. Ich habe immer gesagt, wenn das so weiter geht, trifft mich hier noch der Schlag.“ Helmut Fischer (70) war mal Polizist und glaubt an die Wende zum Guten: „Wir haben jetzt die Stunde Null, aber in der Stunde Null ist eben alles drin“.

Wer nicht weggehen kann, muß bescheiden sein

Für die Fischers, Schmidts und Scheidels dauert die Sommerpause jedes Jahr länger. Und immer zu lange. Die neue Saison haben sie herbeigesehnt. Vor drei Wochen, beim ersten Heimspiel standen Alfons und Charlotte Scheidel dann wieder pünktlich an der Stadionkasse und verlangten wie immer „zweimal Rentner, Block 1“. Wolfsburg war der Gegner. Naja.

In den richtigen Fanblock wollen sie nicht. Da geht es ihnen zu wild zu. „Wir sind Club-Anhänger, aber keine Club-Fans. Das ist die jüngere Generation, die mit Fahnen, Trikots und Trompeten, dazu sind wir zu alt.“ Als einzigen Fan- Artikel hatten die Scheidels stets ihren Opel mit einem kleinen Club-Trikot geschmückt. Jetzt ist der Wagen verkauft, jetzt haben sie nichts mehr. Auch in ihrer Zweizimmer-Neubauwohnung verrät nichts ihre Leidenschaft. „Das ist doch kitschig“, sagt Alfons Scheidel. Das braucht er in seinem Alter nicht mehr.

Die Endphase der vergangenen Saison ist nicht vergessen. Sie hat mächtig an den Nerven der Scheidels gezerrt. Monatelang keine Siege, die Drohung des DFB, die Lizenz zu entziehen. Unbeeindruckt davon nur die Profis, die lustlos auf dem Spielfeld herumkickten und sich derweil schon nach anderen Vereinen umsahen.

Die Scheidels werden nicht mehr weggehen. Das wissen sie, und deshalb sind sie schon mit wenig zufrieden. Wenn sich einer ein bißchen Mühe gibt, das ist doch schon was. „Lust haben sie, aber sie können nicht, das ist ein Unterschied“, sagt Charlotte Scheidel, als spreche sie von ihren Kindern. „Es ist einfach nicht mehr drin in der Mannschaft“.

Wenn die Kicker trotz aller Schwächen gewinnen, ist die Welt vorerst wieder in Ordnung – und die Scheidels gönnen sich Samstag abend daheim den verdienten Schnaps. Den gönnen sie sich nach jedem Club-Sieg. Zum Alkoholiker kann man dabei aber nicht werden. Und die Freude, die man empfindet, ist meist schon eine Woche später wieder entschwunden. „Mir ist dann das ganz Wochenende verdorben, mein Mann sagt immer: Hoffentlich gewinnt der Club, sonst ist mit dir nichts anzufangen“, muß Charlotte Scheidel fast beschämt gestehen.

Heute morgen werden die Scheidels beim Frühstück ausgiebig wie jeden Tag den Sportteil studieren. Heute nachmittag trinken sie einen Schnaps. Vielleicht. Das hängt davon ab, ob der Club gestern sein Spiel gegen Tabellenführer Arminia Bielefeld gewonnen hat. Das wäre was. „Dann reden wir noch eine Stunde über den Club, aber dann reicht es für den Tag.“ Für den heutigen. Aber morgen ist wieder einer.