Ernst Nolte denkt „furchtlos“ nach

In seinem neuesten Buch über das Erinnern und Vergessen wird die DDR-Geschichte verbogen  ■ Von Arnim Mitter

„Besucher der DDR haben sich häufig überrascht und bewegt gezeigt, daß sie inmitten großer Werkshallen auf einfache Arbeiter stießen, die ihnen mit leuchtenden Augen sagten, zwar ständen sie nach wie vor an der Werkbank, aber gegenüber früheren Zeiten habe sich doch alles geändert, denn nun arbeiteten sie nicht länger für Ausbeuter, sondern für sich selbst“, schreibt Ernst Nolte in seinem neuesten Werk.

Welchen Schock müssen solche „Besucher der DDR“ erlitten haben, als sie am Fernsehschirm die leuchtenden Augen der Demonstranten in Leipzig 1989 sahen, die ganz und gar nicht den Eindruck vermittelten, als ob sie sich unter den sozialistischen Produktionsverhältnissen wohl fühlen würden. Zudem dürfte es nur sehr wenige Westbesucher gegeben haben, denen es tatsächlich gelang, bis in die sozialistischen Produktionsbetriebe vorzudringen. Insofern wäre zu fragen, um was für „Besucher der DDR“ es sich denn gehandelt hat, auf die sich Ernst Nolte beruft. Vielleicht kann er sich nicht mehr daran erinnern, weil er es einfach vergessen hat.

Der Volksmund sagt, man vergesse das Schlechte und bewahre nur das Gute im Gedächtnis: „Für viele Bewohner der DDR bedeutete die Mauer nicht nur Sperre und Ausschluß von der Freiheit, sondern Schutz vor der Fremdartigkeit einer bösen und undurchschaubaren Welt.“ Ein nicht geringer Teil der Langzeithäftlinge soll sich also wieder nach dem Gefängnis zurücksehnen. Es ist allerdings nichts darüber bekanntgeworden, daß eine Bürgerinitiative in den neuen Bundesländern zur Wiederrichtung der Mauer entstanden sei. Nach dem „antifaschistischen Schutzwall“ sehnen sich nur diejenigen zurück, die für seine Errichtung verantwortlich waren und in der Tat nicht schlecht davon gelebt haben. Böse Zungen behaupten aber, im Westen gebe es manche, die sich die Mauer zurückwünschten. Sie erinnern sich sicherlich an die Zeiten, als die Westmark noch eins zu sechs im Osten getauscht wurde und den „Brüdern und Schwestern“ bei Geschenken aus den Aldiläden das Herz noch warm wurde.

Erinnern und Vergessen scheint also ein sehr vielschichtiges Problem zu sein, gerade wenn man Noltes Langzeitanalyse liest. Zum ersten Mal bezieht er die neueste deutsche Geschichte in seine Betrachtungen ein: „Der Kern der Geschichtsauffassung, die ich seit 1963, damals noch von nahezu allen Seiten gelobt, vertreten habe, besteht in der Konzeption, daß die Geschichte des 20. Jahrhunderts durch einen zunächst europäischen und dann weltweiten ideologischen Bürgerkrieg zwischen der marxistisch-kommunistischen Utopie, der faschistisch-nationalsozialistischen Gegenutopie und der westlich-pluralistischen Utopielosigkeit bestimmt gewesen sei. Sie liegt auch der Darstellung des vorliegenden Buches zugrunde – wieder einmal, wie die Kritiker sagen werden –, aber diesmal im Blick auf ein größeres Publikum, (...) und erstmals in fast ausschließlicher Bezugnahme auf Deutschland.“

Ohne Kenntnis der Kontroverse um Noltes Geschichtsauffassung – also des sogenannten Historikerstreits – lassen sich weite Passagen des soeben erschienenen Buches kaum verstehen. Darauf läßt sich hier nicht eingehen. In den entsprechenden Kapiteln spiegeln sich ohnehin in erster Linie die Befindlichkeiten des Autors wider. So wird in Noltes Ausführungen oft nicht klar, ob er Sachverhalte schildert oder ob er gegen andere Auffassungen polemisiert.

Am problematischsten ist jedoch die Behandlung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dabei insbesondere der DDR-Geschichte. Diese Abschnitte nehmen auch den größten Umfang ein. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie oberflächlich Noltes Kenntnisse jedoch darüber sind. Daß nach den Ereignissen am 17. Juni 1953 in der DDR zu Kritik und Widerstand „nur Leute imstande (waren), die aus der Mitte der Partei (der SED), kamen und über ,antifaschistische Verdienste‘ verfügten“, ist schlichtweg falsch. Denn während der gesamten DDR-Geschichte gab es auch Opposition und Widerstand außerhalb der SED. Die Genesis der Bürgerbewegung von 1989 wird sonst überhaupt nicht verständlich. Ebenso falsch ist Noltes Behauptung, „die Massendemonstrationen auf den Straßen Leipzigs und Berlins hätten schwerlich zustande kommen können, ohne daß Gorbatschow bei seinem Besuch der Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR grünes Licht für die ,friedliche Revolution‘ gegeben hätte, aus welcher der Untergang des SED-Regimes resultierte“.

Das Zeichen des ersten Mannes aus Moskau haben die Leipziger keineswegs abgewartet, sondern sind schon früher auf die Straße gegangen. Auch hat bisher niemand berichtet, daß der KPdSU-Generalsekretär am 6. oder 7. Oktober mit einer grünen Laterne auf dem Alexanderplatz gesehen worden ist. Am 7. jeden Monats versammelten sich dort ohnehin seit Juni 1989 Oppositionelle, um gegen die Wahlfälschung vom Mai 1989 zu protestieren. Zweifelsfrei befanden sich darunter – wenn überhaupt – nur wenige SED-Mitglieder. Nolte trifft seine historischen Einschätzungen für die DDR-Geschichte mit einer Bestimmtheit, als ob grundlegende Forschungen dazu prinzipiell abgeschlossen seien. Aber selbst die von Nolte mehrfach zitierten Karl Wilhelm Fricke und Wolfgang Schuller argumentieren weitaus differenzierter als Nolte.

Auch zu in der Öffentlichkeit heftig umstrittenen Themen äußert sich Nolte ausgesprochen apodiktisch. So meint er beispielsweise, daß die Kritik des ehemaligen Pfarrers Rainer Eppelmann an der evangelischen Kirchenleitung in der DDR „und ihres Sprachrohrs Manfred Stolpe“ wegen der versöhnlichen Politik gegenüber der SED-Führung nicht zutreffend sei. Nun kann man durchaus diese Meinung vertreten, aber den derzeitigen Ministerpräsidenten von Brandenburg völlig unkommentiert als „Sprachrohr der Kirchenleitung“ zu bezeichnen, ist ausgesprochen einseitig. Die Kritik Eppelmanns an Stolpe richtete sich nämlich weniger an den Kirchenvertreter als vielmehr gegen den früheren Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS.

Solche Beispiele ließen sich in Fülle nennen. Und dabei geht es nicht um Faktenhuberei, sondern darum, die einseitige Wahrnehmung Noltes herauszustellen, die sich nur schwer mit seiner Hoffnung in Übereinstimmung bringen läßt, daß die Bundesrepublik „eines Tages von neuem zu einer Stätte furchtlosen Nachdenkens werden wird“. Wer solches verkündet, muß an den eigenen Maßstäben gemessen zu werden.

Nolte verbiegt die DDR-Geschichte um des eigenen theoretischen Ansatzes willen. Sein Buch macht aber auch deutlich, welche Hilflosigkeit unter den Intellektuellen der alten Bundesländer von links bis rechts über die DDR und ihre Geschichte teilweise noch herrscht. Merkwürdigerweise stimmen dabei die erbittertsten Gegner im einstigen Historikerstreit in vielen Fragen überein. So scheint sich Nolte beispielsweise mit seinen früheren Widersachern über den angeblich geringen Aussagewert der MfS-Akten durchaus einig zu sein.

In der Tat bedarf es „furchtlosen Nachdenkens“, um sich richtig zu erinnern und um nicht das Falsche zu vergessen. Das allerdings muß auch einschließen, die eigenen Positionen kritisch zu hinterfragen. Nur so lassen sich alte Klischees überwinden, die in verblüffender Weise noch fünf Jahre nach der Vereinigung das Bild von der ehemaligen DDR in Westdeutschland prägen. Das sollte nicht nur Ernst Nolte ernst nehmen.

Ernst Nolte: „Die Deutschen und ihre Vergangenheit. Erinnerung und Vergessen von der Reichsgründung Bismarcks bis heute“. Frankfurt am Main, Propyläen 1995, 237 Seiten, 38 DM

Der Autor ist Historiker an der Humboldt- Universität Berlin und Mitbegründer des Unabhängigen Historiker-Verbandes