Der Abriß der Klagemauer

■ Annette Simons „Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären“

Deutschland auf der Couch: Die Ostberliner Psychotherapeutin Annette Simon unternimmt in ihrem jüngst erschienenen Aufsatzband den Versuch, die andauernden Querelen zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen psychologisch auszudeuten. Der Unterschied zu anderen Autoren besteht darin, daß sie sich gleich mit auf die Couch legt. Das verrät sich schon im Titel: „Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären“. Dieser sympathische Ansatz, die eigene Person bei Analyse und Kritik nicht auszublenden, macht das Büchlein höchst lesenswert.

In dem Aufsatz, der dem Buch den Namen verleiht, versucht sie den eigenen Loyalitätskonflikt gegenüber der DDR zu durchleuchten. Wiewohl selbst Oppositionelle, stasibespitzelt und voller Wut gegenüber den SED-Führern, fühlte sie sich doch lange der antifaschistischen „oder besser müßte ich sagen: nach-faschistischen“ Moral der DDR-Gründergeneration zutiefst verpflichtet. Erst später wurde ihr klar, daß dieser politisch korrekte Antifaschismus, in dessen Sinne sie erzogen worden war, geradezu sadistische Elemente enthielt.

Ein Beispiel: Einer Gruppe von „Jungen Pionieren“, der sie im Alter von elf Jahren angehörte, wurde in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück ohne jede Vorbereitung Folterwerkzeuge und Fotos von Frauenleichen vorgeführt. „Ich fühlte mich von diesen Eindrücken so überwältigt“, schreibt die Autorin, „daß ich das einzige Mal in meinem Leben ohnmächtig wurde.“ Später war ihr das ein Anlaß, sich mit dem „Preis an Menschlichkeit“ zu beschäftigen, den die Überlebenden in der DDR zahlen mußten: „Die Antifaschisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Machthabende eingesetzt wurden, haben so, mehr oder weniger bewußt, ihre unter der Verfolgung entstandenen Selbst- und Feindbilder und ihre Verletzungen weitergegeben. Sie installierten damit ein quasi-sadistisches Über- Ich, das seine Berechtigung aus der Anzahl der Toten, den Qualen der Opfer und ihren eigenen Leiden zog ... Diese Antifaschistischen, zu denen auch solche Künstler wie Brecht und Anna Seghers gehörten, waren der Überzeugung, dieses Volk, das den Nationalsozialismus bejubelt und getragen hatte, nur noch erziehen, bestrafen oder belehren zu müssen – und dies bis ins dritte Glied.“ Und, so fügt sie später hinzu, obwohl sie keinerlei Sympathie für jugendliche Schläger hege, „so kann ich doch als Psychologin sehen, wie da Jugendliche um sich schlagen, die sich aus staats-inzestuösen Bindungen entlassen fühlen, aber nichts anderes kennen“. Solche Gewalttäter „weisen die nach-faschistischen, verdeckt sadistischen und übermoralischen Erziehungsideale ihrer Eltern als anti-moralisch und sadistisch zurück“.

Für westdeutsche Meinungsmacher ist das leicht zu entlarvende hohle Pathos des SED-Antifaschismus ein willkommener Anlaß, den Ostdeutschen gleich doppelte Schuld aufzubürden: nicht nur die Schuld am Stasiregime, sondern auch die Schuld am Nationalsozialismus und seiner gescheiterten Aufarbeitung. Zurecht empört sich Annette Simon über diesen Versuch, sich selbst als Saubermann darzustellen, indem man seinen Mittäter mit Dreck bewirft: „Der unbewältigte Faschismus ist nicht nur in der Teilung Deutschlands und in dem paranoiden Staatssicherheitssystem zu finden, sondern auch in den Hochsicherheitstrakts der RAF-Häftlinge und den Schlachten um Brokdorf. Momentan laufen aber die Projektionen – besonders in den Medien – nur noch von West nach Ost, nur die Ostdeutschen sind die häßlichen Deutschen.“ Nach Meinung dieser Westler müßten die Ostler wohl „so oft mit dem Kopf in die eigenen Exkremente gestoßen“ werden, „wie es bei der Sauberkeitserziehung von Hunden üblich ist. Sie haben in baufälligen Wohnungen in einer verschmutzten Umwelt autoritär ihre Kinder erzogen, sich gegenseitig ständig bespitzelt, zu wenig und ineffizient gearbeitet, und selbst im Bett haben sie nicht über die richtigen Techniken Bescheid gewußt oder nicht die entsprechenden Gleit- und Reizmittel angewandt.

Und nun sollen sie sich endlich und gründlichst schämen für diesen ganzen Dreck und diese ganze Zurückgebliebenheit.“

Das Manöver der einseitigen Schuldzuweisung soll auch ablenken von der eigenen Scham, die hinter der Mauer für den Nationalsozialismus Büßenden lange Zeit vergessen zu haben. Annette Simon benutzt hier das Bild zweier Zwillingsbrüder, „von Mutter Deutschland und Vater Faschismus gezeugt“, die „eine Klage- und Projektionsmauer“ zwischen sich aufgebaut haben.

Ein anderes Bild aus dem Familienleben malt der Gießener Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth in seinem Aufsatz „Szenen einer Ehe“ im Heft 59 der Reihe Psychosozial.

Er beschreibt ein Ehepaar, das „durch widrige Umstände voneinander getrennt“ wird. Der Mann macht Karriere, die Frau hingegen lebt „in kargen Verhältnisse“ und verharrt in „depressivem Dämmerzustand“, bis sie sich eines Tages doch noch freikämpfen kann und plötzlich ihren Gatten wiedertrifft. „Verdammt ist der aber dick geworden“, ist ihr erster Gedanke. Dennoch läßt sie sich von ihm, der ihr dringend vorführen muß, „was er inzwischen alles geleistet und erreicht hat“, zur Fortsetzung ihrer Ehe überreden. Die geht natürlich innerhalb kürzerster Zeit schief: Frust, wechselseitige Vorwürfe, enttäuschte Hoffnungen.

Schade, daß der Familientherapeut seinen originell begonnenen Aufsatz so banal beendet – ausgerechnet beim Familientherapeuten. Der Paarexperte hört sich alles geduldig an, deutet brav alle Projektionen und Aggressionen, und „nach einer Krise können beide viel kopperativer als zuvor den eigenen Anteil an dem Konflikt anschauen und bearbeiten“. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Ute Scheub

Annette Simon: „Versuch, mir und anderen die ostdeutsche Moral zu erklären“. edition psychosozial 1995, 112 Seiten, 19,80 DM

„Ossis und Wessis: Psychogramm deutscher Befindlichkeiten“. Psychosozial, 18. Jahrgang 1995, Nr. 59, Psychosozial Verlag Gießen, 32. DM