Keine strahlende Zukunft für Böhmen

Es sind nicht viele, die sich im tschechischen Temelin gegen den Weiterbau des Atomkraftwerks wehren, aber sie sind unverzagt. West-Konzerne verdienen an der Nachrüstung östlicher Reaktoren  ■ Aus Temelin Bernd Siegler

Die gelbe Farbe des niedrigen Kirchturms blättert ab, die Fenster sind eingeschlagen. Ein Gerüst deutet auf Renovierung hin. Ein Arbeiter verputzt die Friedhofsmauer, ein blitzblankes kleines Kupferdach thront bereits auf der Kapelle. Der Friedhof von Křtěnov, auf einer Anhöhe über der Moldau in Südböhmen, wird herausgeputzt. Aber für wen?

Křtěnov, das dazugehörige Dorf, gibt es schon lange nicht mehr. Dort, wo einst kleine Häuser standen, ragen heute vier 156 Meter hohe Kühltürme und ein Dutzend Kräne in den Himmel. Nur einen Steinwurf vom Friedhof entfernt feierte man 1984 den ersten Spatenstich für das ehrgeizige Projekt. Auch die Wende 1989 änderte daran nichts: Hier, inmitten riesiger Rapsfelder und kleiner Wälder, soll das größte Atomkraftwerk der Tschechischen Republik entstehen. In Temelin, etwa 20 Kilometer von České Budějovice (Budweis), 80 Kilometer von Passau und 220 Kilometer von München entfernt, errichtet der Autobauer Škoda zwei 1.000-Megawatt-Blöcke des Druckwasserreaktors sowjetischer Bauart.

Etwas abseits der Gräber auf dem Friedhof von Křtěnov, in Blickrichtung zur Baustelle, steht ein schmuckloses, schwarzes Kreuz. „Obětem Cěrnobyla“ lautet die Inschrift, „Den Opfern von Tschernobyl“. Die Initiative „Südböhmische Mütter gegen die Atomgefahr“ hat es vor einem Jahr aufgestellt. Jedes Mal, wenn Dana Kuchtova hierher kommt, muß sie feststellen, daß das Atomkraftwerk Temelin wieder ein Stück gewachsen ist. 1997 soll es ans Netz gehen. Doch Dana Kuchtova wäre nicht die Vorsitzende der Mütter-Gruppe, wenn sie die Hoffnung aufgeben würde. Die 33jährige Gymnasiallehrerin hat schon vor der Wende als Dolmetscherin Kontakt zu österreichischen AtomkraftgegnerInnen gehabt. Dadurch hat sie zu Zeiten, in denen es in der Tschechoslowakei kaum brauchbare Informationen gab, Genaueres über Tschernobyl erfahren. Und als in Wackersdorf die Wiederaufbereitungsanlage durchgesetzt werden sollte, reiste sie dorthin.

Daß nach 1989 der Umweltschutz in der Skala der vorrangigen Probleme der TschechInnen nach hinten rutschte, irritierte Kuchtova zunächst – wie alle, die geglaubt hatten, die neue politische Freiheit für ihre Ziele nutzen zu können. Nun hofft die Lehrerin, daß mit einer Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse auch das Umweltbewußtsein wieder wachse. Bis dahin sieht sie ihre Aufgabe darin, zu „verhindern, daß das Thema ganz verschwindet.“

Im Umkreis von Temelin haben sich rund 50 Mütter zusammengeschlossen, um gegen das Atomkraftwerk zu kämpfen. Dana Kuchtova hat keine Kinder: „Ich habe mehr Zeit als die anderen, deswegen bin ich Vorsitzende.“ Die „Mütter“ haben Unterschriften gesammelt, Märsche organisiert, Petitionen eingereicht und viele Veranstaltungen abgehalten, auf denen sie einen resignativen Grundton wahrnehmen konnten: „Die Leute hier sind verbittert, sie sagen, die Regierung höre sie nicht.“ Dagegen anzugehen, sei mühsam.

Tschechische AKW-Gegner suchen Verbündete

Kuchtova hofft deshalb auf Unterstützung von außen. Den Demonstrationen hätten sich viele Österreicher angeschlossen. Noch größere Wirkung versprechen sich die „Mütter“ von deutschen MitkämpferInnen – vor allem, weil die Temelin-Betreibergesellschaft Informationen streut, wonach die Mehrheit der Deutschen für Atomkraft sei: „Je mehr Deutsche zu unseren Demonstrationen kommen, um so besser.“

Der bayerische Bund Naturschutz unterstützt die „Mütter“. Sein Landesbeauftragter Hubert Weiger, der schon mehrere Male nach Temelin gekommen ist: „Die Atomindustrie versteht Temelin als Einstiegsprojekt für das vermeintlich boomende Nachrüstgeschäft im Osten, das müssen wir verhindern“. Die BUND-Leute wollen sich die Angst vor den Ost- AKWs zunutze machen, die sogar CSU-Mandatsträger umtreibt. So hatte der niederbayerische Landtagsabgeordnete, Konrad Kobler, einmal den Vergleich gewagt, daß „man keinen Trabi mit einem Mercedes-Motor nachrüsten kann, ohne daß es ihn zerreißt“. Derzeit mobilisiert der BUND seine Mitglieder zur Großdemonstration in České Budějovice am 27. April. Damit die Kommunikation klappt, haben die Naturschützer Geld für ein Fax-Gerät gesammelt.

Das hält nun Bau-Ingenieur Dalibor Straský in Händen. Der zurückhaltende 34jährige hat ein Umweltbüro in České Budějovice eröffnet. Seine berufliche Karriere startete er indes auf der Gegenseite. Er arbeitete in der Zentrale des Sekundär-Kreislaufs im AKW Dukovany. „Schlampereien fand ich damals noch normal“, erinnert sich Straský. Mal sei die Pumpe nicht gegangen, dann sei der Leiter des AKWs betrunken zur Arbeit erschienen. Später arbeitete Straský beim Bau von Temelin mit. Als er feststellte, daß das sowjetische Reaktormodell WWER-1000 während des Baus ständig verändert wurde, kündigte er. „Unsere AKWs sind nicht beherrschbar“, lautete sein Resümee.

Danach gelang es ihm nur noch auf inoffiziellen Wegen, Informationen über Temelin zu beschaffen: „Der Preis für meinen Ausstieg war, nicht mehr als Fachmann anerkannt zu werden.“ Straský stieß auf eine geheimgehaltene Studie der Akademie der Wissenschaften in Prag: Schon 1983 untersuchte man dort den Standort Temelin. Das AKW liege an einer „absolut ungeeigneten Stelle“, heißt es in der Studie. Es befinde sich in einer Erdbebenzone, und der Wasserbedarf sei durch die Moldau, die im Tal vorbeifließe, nicht zu sichern. Die Internationale Atomenergiebehörde in Wien stellte 1993 zudem 16 gravierende Fehler allein im baulichen und konstruktiven Bereich von Temelin fest.

Mit dreistelligen Millionenbeträgen sollen die Kraftwerke sowjetischen Typs jetzt sicher gemacht werden. Beim slowakischen AKW Mochovce haben Siemens und Framatom den lukrativen Auftrag ergattert, in Temelin hat der US-Konzern Westinghouse das Rennen gemacht. Ärgerlich registrieren die AtomkraftgegnerInnen um Dana Kuchtova und Dalibor Straský, daß der ehemalige deutsche Umweltminister Klaus Töpfer die Nachrüstung baugleicher AKW-Typen auf deutschem Boden für unsinnig gehalten hatte.

Temelin als Prototyp für AKW-Nachrüstung

Stendal, baugleich mit Temelin, und Greifswald, baugleich mit Mochovce, wurden bekanntlich kurz nach der Wende stillgelegt. Den Weiterbau von Temelin und Mochovce befürwortet man jedoch in Bonn. „Da werden völlig unterschiedliche Systeme zusammengewürfelt“, empört sich Straský über die Nachrüstung. Aber die Konzerne bräuchten „unbedingt eine Referenzanlage für die Umrüstungsgeschäfte in der Ukraine, in Bulgarien und in Rußland“.

„Das Zentrum des Widerstands ist Budweis“, betont Straský. Von den kleinen Gemeinden um das Kraftwerk komme nicht viel. „Viele hoffen auf kostenlosen Strom.“ In Temelin selbst, mit seinen knapp 1.000 Einwohnern, den Häusern, die sich um einen Dorfweiher mit Trauerweide gruppieren, rege sich beispielsweise gar nichts. Der Bürgermeister sei eben ein „Onkel“. Ein Onkel? „Er ist keine Persönlichkeit, sondern eine von den Betreibern erwünschte Person ohne eigene Meinung.“

Aber Tomas Jirsa ist kein „Onkel“ – er hat eine eigene Meinung. Der 38jährige Ingenieur und heutige Bürgermeister hat ebenfalls am Kraftwerk Temelin mitgearbeitet. Doch nachdem er drei Jahre Chef der Gemeindeverwaltung war und für die Regierungspartei ODS kandidierte, zog er im letzten Herbst in das Rathaus der 4.000-Einwohner-Gemeinde Hluboka ein. Vor allem das dem englischen Windsor nachempfundene Schloß über der Stadt, wo einst das Fürstengeschlecht der Schwarzenbergs residierte, zieht die Touristen an. Tomas Jirsa war früher strikt gegen das AKW, jetzt ist er es auch noch, aber nurmehr privat. „That's life“, sagt er. Vor drei, vier Jahren sei eben vieles anders gewesen.

Damals, 1992, hätten sich 60 Städte und Gemeinden im Umkreis von 20 Kilometer um Temelin zu einem Verband zusammengeschlossen. Fast alle seien gegen das AKW gewesen. Dann sei die ODS an die Regierung gekommen und habe eindeutig ja zu Temelin gesagt. „Das ist unsere Regierung, wir müssen das akzeptieren“, sagen sich nun viele Leute. Fast entschuldigend zuckt Jirsa mit den Schultern. Jetzt konzentriere sich der Verband eben auf Katastrophenschutzpläne und Haftungsfragen.

Aus den Dörfern kommt kein Widerstand

Mit einer ausladenden Handbewegung zeigt der junge Bürgermeister zum Schloß hinauf. „Eine Beleuchtung der Burg würde uns zwei Millionen Kronen kosten, zudem müßten viele Straßen repariert werden, wir brauchen viel Geld.“ Da wolle man es sich nicht mit der Betreibergesellschaft von Temelin – „a very rich company“ – verscherzen. Die könnten vielleicht einmal Hluboka unter die Arme greifen. „Wenn wir gegen sie sind, tun sie das bestimmt nicht.“

Ein weiterer Zwiespalt bleibt dem Bürgermeister nicht erspart: Die Experten von Westinghouse haben Gefallen an dem Städtchen Hluboka gefunden und sich dort einquartiert. „Die bringen uns Geld.“ Steht Jirsa für seine Überzeugung oder für das Wohl der Stadt? Tomas Jirsa hat sich für letzteres entschieden: „Ich befürchte, daß ich diese Situation nicht ändern kann“.

Dana Kuchtova indes verweist auf die bisherigen Erfolge. Von dem einstigen Plan, vier 1.000-Megawatt-Blöcke in Temelin zu bauen, blieben nur zwei Blöcke übrig. Auch ein AKW in der Nähe von Pilsen konnte verhindert werden: „Unsere Zeit kommt.“ Daß die Gruppe der „Südböhmischen Mütter“ im aktuellen Verzeichnis des Sicherheits- und Informationsdienstes des Innenministeriums als „staatsgefährdende Organisation“ aufgeführt ist, nimmt sie gelassen. Dagegen zu sein, das hat sie schon unter schwierigeren Bedingungen geübt.