"Lasche Justiz"

■ Schuldunfähiger Türke sitzt wegen Bagatelldelikten in Haft / Bezirksbürgermeister setzte sich vergeblich für ihn ein

Seit er vor drei Jahren von einem Baugerüst stürzte und dabei seine Schädeldecke zertrümmert wurde, ist Mehmet S. geistig behindert. Der 49jährige Familienvater kann sich nicht mehr orientieren und weiß auch nicht mehr, was er tut, wenn er sich irgendwo herumtreibt. In diesem Zustand fuhr er vor zweieinhalb Jahren alkoholisiert Auto und brach in ein anderes Fahrzeug ein, um dort zu schlafen. Wegen dieser beiden Schwerverbrechen sitzt der Türke nun seit vergangenen Sonntag in Haft – schon zum zweiten Mal und trotz amtlicher Feststellung seiner Schuldunfähigkeit. Seine Anwältin, sein Betreuer von der Arbeiterwohlfahrt, der Schöneberger Bezirksbürgermeister Uwe Saager (SPD) und die bezirkliche Ausländerbeauftragte Emine Demirbüken haben sich vergeblich bemüht, ihn dort herauszuholen.

Ein erster Strafprozeß gegen den Türken war geplatzt, weil der Angeklagte nicht erschienen war. Ihm sei nicht zu vermitteln, so seine Anwältin Susanne Multhaupt, warum es wichtig sei, dort zu erscheinen, und unter den Arm klemmen könne sie ihn nicht. Daraufhin wurde Mehmet S. im Januar diesen Jahres zum ersten Mal verhaftet. Drei Wochen mußte er in Untersuchungshaft sitzen, bis ihm die amtlichen medizinischen Gutachter Schuldunfähigkeit attestierten. Er kam wieder frei, trieb sich wie vorher herum, ließ sich aber nichts zuschulden kommen.

Doch die Tatsache, daß er nach wie vor nicht zur angesetzten Hauptverhandlung erschien, empörte den zuständigen Amtsrichter offenbar derart, daß er jetzt Haftbefehl erließ. „Mit fünf Leuten haben sie ihn verhaftet wie einen Schwerverbrecher“, berichtet sein Sohn, während seine Ehefrau sich die Tränen abwischt. „Und das, obwohl er gerade dabei war, sich wieder zu fangen.“

Die Ausländerbeauftragte von Schöneberg erregt sich jedoch nicht nur über die persönliche, sondern auch über die politische Dimension dieses Falles: „Hier funktioniert sie plötzlich, diese lasche Justiz“, sagt Emine Demirbüken. „Aber wenn wir bei rassistischen Überfällen die Hilfe der Strafverfolger brauchen, sind sie nicht da.“ Solch ein Fall sei bestens geeignet, das ohnehin schon geringe Vertrauen der Ausländer in die deutsche Justiz noch weiter zu untergraben. Und: „Hier hat sich ein Richter die Krone aufgesetzt und will sie nicht mehr herunternehmen.“

Ebenjener Richter sieht die Sache indes ganz anders. Da der Angeklagte diversen Hauptverhandlungen ferngeblieben sei – die Anwältin spricht von zweien –, sei ihm nur noch der Griff zum Zwangsmittel der Verhaftung geblieben, so seine Darstellung über die Justizpressestelle. Außerdem müsse der Mann ja nur noch bis kommenden Dienstag in Haft bleiben, weil für diesen Tag ein neuer Prozeßtermin angesetzt sei. Die Anwältin des Türken vernahm diesen Termin mit Überraschung: „Davon weiß ich überhaupt nichts. Ich habe nur die Ladung zur Haftprüfung erhalten.“ Ute Scheub